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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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nie war das Karl-Heinz bewusster als in diesem Augenblick. Aber es tröstete ihn nicht, im Gegenteil.
    Die Frau war nun bis auf Armlänge bei ihm. Und tatsächlich fuhr sie den Arm aus, an dem Arm war wie erwartet eine Hand und diese Hand packte Karl-Heinzens Mantelkragen und zog ihn samt schlotterndem Inhalt zu sich heran. „Was bist du denn für ein kleines süßes Etwas?“ Diese Stimme! Sie fuhr ihm durch sämtliche Glieder, sogar durch das eine, das sich sofort noch kleiner machte und Schutz suchte. Umsonst. Er atmete ihren Geruch, genauer: ihren Mundgeruch. Ihr Parfüm, das nicht von dieser Welt war, sondern aus einem besonders schaurigen Fantasyfilm. Adieu, du schöne Welt der reinen Unschuld.
     
     
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    „Hallo Chef.“ Annamarie Kainfeld hatte die Beine auf der Kante ihres Schreibtisches zur Ruhe gebettet – ich schaute sofort weg – und hockte zwischen Zwillingstürmen aus Akten und losem Papier. Chef. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte jemand „Chef“ zu mir gesagt, jemand – dazu eine attraktive und intelligente Frau – befand sich „unter mir“. Doch gemach, eitler Moritz Klein, lass dich nicht von solchen Titeleien einwickeln. Du bist doch ein alter Sozialist, gelt? Keine Hierarchien, nicht einmal flache. Dennoch: Chef. Das klang wie – hm, was eigentlich? Wie Indianerhäuptling. Man bekommt den prächtigsten Federschmuck.
    „Post war da“, sagte Annamarie und wies auf die Türme. „Gleich mit nem Extraauto, SÄCKE VOLL! Ich hab schon mal vorsortiert.“ Ich sagte nur „aha“. Nach Arbeit war mir gerade nicht zumute, einen Arbeitsvertrag besaß ich auch noch nicht. „Ihr Arbeitsvertrag ist auch gekommen“, riss mich Annamarie aus meinen spekulativen Träumen und nahm das oberste Stück Papier vom linken Turm. „Und einen Vorschussscheck haben die auch beigelegt. Nobel, nobel.“ Ich sagte noch einmal „aha“ und nahm die Papiere entgegen.
    Oha. Ein Blick auf den Scheck verriet mir, dass ich in bislang utopische Gehaltsklassen aufgestiegen war. Laut Arbeitsvertrag, einem im Übrigen sehr minimalistischen Papier, war ich leitender Angestellter der Bundeseigenen Gesellschaft für Bürgerglück mBH, im Folgenden BGBG, unbefristet beschäftigt und nur der Geschäftsführer des Unternehmens, ein Herr Ministerialrat Schramm, war mir gegenüber weisungsbefugt. Zweifache Ausfertigung, eine bitte unterschrieben zurück. Ich sagte noch einmal „Aha“, Annamarie Kainfeld nahm die Beine vom Tisch und ordnete ihren Rock, nicht ohne sich mit misstrauischem Blick davon zu überzeugen, dass ich dieser Aktion aus dem Winkel meines linken Auges durchaus mit Anteilnahme folgte.
    „Wollen Sie die Briefe sichten? Ich schätze mal so um die 500. Die meisten ohne genaue Adresse, einfach an 'Büro Bürgerglück' oder „Moritz Klein, Glücksbeauftragter' adressiert. Aber alle angekommen. Wacker, deutsche Post.“
    Ich verzichtete auf das vierte „Aha“ ebenso wie auf die Zurkenntnisnahme der Briefe. Ich war jetzt schließlich Chef und ließ mich von der Frau, die unter mir stand, nicht zur Zwangsarbeit animieren. Annamarie versuchte es erst gar nicht. „Kaffee?“ Ich schüttelte den Kopf. „Hab noch ne Verabredung – ich meine: einen Termin.“ Man muss sein Vokabular der neuen sozialen Stellung anpassen. Arbeitslose und domestizierte Arbeitnehmer mochten Verabredungen haben, Führungskräfte stattdessen eilten von Termin zu Termin. Mist, ich musste mir einen Terminkalender anschaffen.
    „Ich mach dann Feierabend, wenn’s recht ist“, kündigte meine Sekretärin – besser: Chefsekretärin – an. „Morgen sollen die Computer und all das kommen, ich hefte dann auch die Schreiben ab. Alphabetisch oder thematisch?“ „Thematisch? Hm, nein, zuerst alphabetisch. Ich gehe dann peu à peu von A bis Z durch. 500?“ „Geschätzt. Und morgen kommt bestimmt neue Post. Wir bräuchten einen Assistenten oder so etwas. Oder wenigstens ein paar Praktikanten.“
    Hm, ja, sie hatte Recht. Was war schon ein Chef, der nur eine einzige Angestellte zu befehligen hatte? Aber wir hatten zu wenig Platz in unserem Büro, eine expandierende Bearbeitungsstelle für Glücksanfragen war von höherer Instanz offensichtlich nicht vorgesehen.“
    Wir gingen zusammen aus dem Büro, ich schloss ab. „Morgen um neun?“ fragte Annamarie. Ich nickte. Korrigierte dann aber: „Sagen wir 10. Ich kann anderen kein Glück bringen, wenn ich selbst das Pech habe, nicht ausschlafen zu können. Außerdem: Ich hab noch einen

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