Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
„Das ist Irmi, die ist quasi unser Garant für Seriosität.“ „Aha“, murmelte Karl-Heinz desinteressiert. Es juckte ihn so langsam. Gleich. Wie würde die Kleine wohl aussehen? Geschlossen oder schon knospend? Hatte beides seinen Reiz. Da hinter der Ecke ertönte jetzt ein Lachen, aber nicht das eines jungen Mädchens. Sehr sonor, fast männlich. War er am Ende nicht der einzige, dem der Genuss zuteilwerden sollte? Ein Anflug von Enttäuschung. Nein, in Sachen Perversion war Karl-Heinz alles andere als teamfähig. Da war er totaler Egoist. Andererseits: Konnte auch seinen Reiz haben.
Als er um die Ecke bog, schloss er kurz die Augen. Die Vorfreude. Wenn ich sie gleich öffne, dachte er, liegt sie vor mir. Vielleicht hübsch unschuldig auf ein buntes Tuch gegossen, ein Engel mit einem Blick voller Unschuld, ein ätherisches Wesen, das seinen Körper mit jener Natürlichkeit präsentiert, die in unserer Welt des Zweckmäßigen, des zivilisatorisch Verdrängten so selten geworden ist. Jetzt. Etwas raschelte. Aha, wusste er ja: Sie lag auf einem Tuch. Er öffnete die Augen.
Es waren sogar drei. Sie waren alle nackt. Sie räkelten sich tatsächlich. Auf einem großen, mit nachtblauem Stoff bespannten Podest. Sie sahen anders aus, als Karl-Heinz sie erwartet hatte. Es war – irgendwie mehr. Im wahrsten Sinne des Wortes. In Kilogramm ausgedrückt, schätzte Karl-Heinz, waren das auch keine drei, es waren, übern Daumen, fünfzehn oder so. Das überraschendste jedoch: Alle drei – oder fünfzehn – waren erkennbar über vierzig.
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Er hatte aus purer Verzweiflung zum Telefon gegriffen. Privatgespräch. Oh ja, jetzt musste er aufpassen, hinter jeder Säule des Schlosses hockte ein blutrünstiger Journalist und würde ihm einen Strick aus der Verquickung von privaten und dienstlichen Interessen drehen. Na und? Würde man ihn feuern. Das wollte er doch, ja? Nicht mehr hier in diesem Büro sitzen, das vor kurzem noch von Polizei und Staatsanwaltschaft durchsucht worden war. Nicht von einem Vorgesetzten begrüßt werden, der, sobald er auf die Straße ging, von Menschen begrüßt wurde, die ihm ihre Schuhe drohend entgegenschwenkten. Er saß in der Falle. Wie hieß das Ding hier? Bellevue? Französisch. Und noch nie war ein Name sprechender als dieser: Das waren wirklich schöne Aussichten.
Es beruhigte ihn, Oxanas Stimme zu hören. Sie sprachen distanziert, was ihn nicht verwunderte. Er schämte sich, er hoffte, sie werde sein Dilemma verstehen. Oxana jedoch verstand nur, dass dieser Kriesling-Schönefärb sie anrief, um Neues über Sonja Weber zu erfahren. Ja, es gehe ihr den Umständen entsprechend gut. Ja, sie habe sich nach ihm erkundigt. Nein, Oxana wisse nicht, was in jener Nacht, als Kriesling-Schönefärb verschleppt worden war... Sie hörte mitten im Satz auf zu reden. Kleine Pause. Dann: „Und nun? Das mit Moritz weißt du natürlich auch. Steckst du vielleicht sogar dahinter?“ Das kränkte ihn. Er sagte lapidar: „Nein.“ Keine Antwort von der anderen Seite. Er hatte auch ihre Frage noch nicht beantwortet, wie auch. Schritte näherten sich, „ich muss Schluss machen“, sagte Kriesling-Schönefärb und legte auf. Die Tür wurde geöffnet, ein Mann in Livree und langer weißer Lockenperücke streckte den Kopf ins Zimmer, kündigte an: „Er kömmt.“ Kömmt? Ja, sie redeten hier sehr altmodisch. Wessen Idee war es gewesen, Schloss Bellevue zu einer kleinen Ausgabe von Versailles umzugestalten? Mit livrierten Lakaien und dem ganzen staubigen Hofzeremoniell des Sonnenkönigs. Man sollte diesen Leuten sagen, dass genau solches Gehabe einmal die große französische Revolution ausgelöst hatte. Aber interessierte sie nicht. Man musste noch ein paar Jährchen durchhalten, dann würde jeder wieder in sein biederes Reihenhaus in einem biederen Vorort einer biederen Landeshauptstadt zurückkehren, um den Kindern zuzusehen, wie sie auf Tretautos durch den biederen Garten rasten und biedere Rosenstöcke umfuhren.
Der Bundespräsident trat wort- und grußlos ein, setzte sich auf den Besucherstuhl, zog ein damastenes Taschentuch aus der Hose und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Machen Sie mich glücklich, Kriesling-Schönefärb“, sagte er. Der musste sich das Lachen verkneifen. War doch jetzt der Job von Moritz Klein. Bürger glücklich machen. War der Bundespräsident ein Bürger? Oder war er nur ein Mensch? Einer wie zum Beispiel ein Dönerbudenbesitzer, ein Schneider, ein
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