Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
der Klinik wieder das Bewusstsein erlangt, wie uns Oxana telefonisch informierte. Ja, sie sitze gerade am Bett des Dichters, dessen Kopf eine Art Turban ziere und der über starke Kopfschmerzen klage. „Aber mehr als eine leichte Gehirnerschütterung ist das wohl nicht. Gritli? Ja, ein Kollege von dir war schon da und hat Marxers Aussage aufgenommen. Er kann sich an nichts erinnern. Ein Schlag gegen den Hinterkopf und dann war zappenduster. Ich bleib noch eine halbe Stunde zum Händchenhalten und komme dann zu euch.“
Wir nippten an unseren Getränken und dachten nach. Jemand wollte Marxer verwarnen und gab sich dabei viel Mühe. Aber warum? „Wir müssen großzügiger denken“, schlug Gritli Moser vor. Großzügiger denken? „Ja“, erklärte sie, „spielen wir das doch einmal durch. Vor knapp sechs Monaten hat es hier im Lokal einen versuchten Massenmord gegeben. Moritz fiel ins Koma – und nichts geschah. Kaum ist Moritz wieder auf den Beinen, gerät Marxer ins Visier eines anonymen Täters. Eins steht fest: Moritz kann dieser Täter nicht sein. Aber du hast etwas damit zu tun. Du bist eine Gefahr – aber nicht, weil du wieder unter den Lebenden weilst, sondern – ich weiß ja auch nicht.“
„Hm“, sagte Irmi nach einiger Überlegung, „vielleicht ist das wie mit diesen Chemikalien. Für sich genommen sind sie harmlos, aber wenn man sie zusammenschüttet… und durch die Tatsache, dass Moritz wieder bei Bewusstsein ist und also die Möglichkeit besteht, dass man ihn quasi mit Marxer zusammenschüttet – ich weiß ja auch nicht.“
Ich schüttelte den Kopf. „Und wieso trifft es dann diesen unterirdischen Unterhaltungsschmierer und nicht mich, wenn alles von mir abhängt, hä? Ich bestehe darauf, das Opfer von Attentaten zu werden! Schließlich bin ich Bundesbeamter!“
Das fand nun niemand am Tisch witzig. Einige in der Nähe herumlungernde Journalisten schrieben es indes eifrig in ihre Blöcke oder sprachen es in ihre Tonbandgeräte.
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Nein, jetzt bitte keinen bedeutungsschwangeren Albtraum! Ich mag es nicht, wenn in Romanen geträumt wird, ich mag es noch weniger, wenn ich im wirklichen Leben träume, mich hin und her wälze – schwül ist es auch noch, ich schwitze, das Bettlaken ist nass, aber es ist nicht der Schweiß des Liebesaktes, sondern dieses synaptischen Feuerwerks in meinem Kopf.
Ich träume von Erdbeermarmelade. Ich sitze in einem See aus Erdbeermarmelade, voll in Glassplittern auch noch, die meinen Hintern ritzen. Die Erdbeermarmelade ist warm, sie wird immer wärmer, bald ist sie heiß. Am Rand des Sees steht Marxer, schallend lachend, während er mit einem Paddel im See rührt wie ein Kannibale in einem Kochtopf. Dämpfe steigen auf, Erdbeermarmeladendämpfe. Was gibt das, wenn es fertig ist? Erdbeermarmelade mit kleinen Moritz-Klein-Brocken, der letzte Schrei in der kulinarischen Frühstücksbranche. Na, danke.
Wie gesagt: Ich mag so etwas nicht. Ich befehle mir aufzuwachen. Denn das ist eine meine großen Stärken: Wenn ich träume, dann weiß ich, dass ich träume und wenn es mir zu bunt wird, schnippe ich mit den Fingern, rufe „Halt!“ und steige aus, das heißt: Ich zwinge mich zu erwachen. Also schnippe ich mit den Fingern und rufe „Halt!“ „Wirklich?“ ruft mein träumendes Ich zurück. „Ja! Und jetzt mach endlich!“
Als ich erwache, dämmert bereits der Morgen heran. Auf den Straßen fahren die ersten Autos und bringen Arbeitnehmer zu ihrer Arbeit, wo ihnen ihre Arbeitskraft abgenommen wird. Im Gegenzug erhalten sie immer wertloseres Papier. Auch hier: Na, danke.
Ich muss aufstehen, muss sofort unter die Dusche, muss ordentlich frühstücken – aber natürlich keine Erdbeermarmelade, ich habe auch gar keine im Haus. Honig wird es auch tun. Keine neuen Nachrichten auf meinem Handy, Marxer geht es also gut, der Attentäter hat kein drittes Mal zugeschlagen. Ich frottiere mich sorgfältig, der Kaffee ist inzwischen fertig, ich schalte das Radio an, Dudelmusik überfällt mich wie finstere Räuber einen arglosen Reisenden im tiefen Wald. Ich streiche Honig aufs Brot, ich kaue, ich versuche klar zu denken, was mir aber auch ohne Honig nur selten gelingt. Endlich, Nachrichten. Ich habe die Wahl, leiser zu kauen oder das Radio lauter zu stellen. Ich entscheide mich dazu, leiser zu kauen.
Die Nachricht vom zweiten Marxer-Attentat kommt nach der letzten Euro-Schauermeldung, einer Goldmedaille für Deutschland im Achterrudern mit Pferden auf
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