Die Ehre der Am'churi (German Edition)
hier am Boden liegen? Und wer sollte so wahnsinnig sein, mir zur Hilfe zu kommen? Ich habe es selbst geschafft.“
Kamur zweifelte Ni’yos Worte nicht an, ließ aber weiterhin seine Wut an dem Jungen aus, schlug und trat ohne Rückhalt auf ihn ein.
Er bringt mich um …, dachte Ni’yo mit schwindendem Bewusstsein. Wäre dies irgendeine andere Nacht gewesen, hätte er sich vielleicht in sein Schicksal gefügt. Er hätte sich zu Tode prügeln lassen wie ein räudiger Hund und es begrüßt, das Ende der endlosen Qual. Aber heute nicht. Nicht nach dem, was Jivvin ihm geschenkt hatte.
„Hör auf!“, grollte er. Verblüfft hielt Kamur inne, starrte auf seine blutigen Fäuste, als würde ihm erst jetzt bewusst, was er hier eigentlich tat. Vielleicht war es ja wirklich so?
„Darf ich dir einen guten Rat geben?“, fragte Ni’yo mühsam. Völlig aus der Fassung gebracht nickte Kamur stumm. Noch nie hatte Ni’yo ein einziges Wort gesprochen, in all der Zeit nicht, die er gefoltert und misshandelt worden war, weder um Gnade gefleht noch verlangt zu wissen, warum man ihm das antat. Nicht einmal geschrien …
„Jahrelang habe ich euch gestattet, mit mir zu tun, was immer ihr wolltet, wenn es euch gelang, mich zu überwältigen. Ich dachte, es ist euer Recht. Damit ist jetzt Schluss, Kamur. Ich bin müde, ich bin hungrig, und Am’chur weiß, ich habe genug Schmerzen ertragen. Mein Rat an dich, und gib ihn jedem deiner Freunde weiter, die dir am Herzen liegen: Fasst mich nie wieder an. Versucht nie wieder, mir aufzulauern oder mich zu vergiften. Wenn ihr mich besiegen wollt, fordert mich zum Ehrenduell, ich werde niemanden töten, der mir im ehrlichen Kampf unterlegen ist.“ Er fixierte den angststarren Jungen mit brennendem Blick. „Kamur, ich meine es ernst. Überfallt mich noch einmal, und ICH fordere euch zum Ehrenduell, und töte jeden, der mich verletzt hat.“
Langsam wich Kamur zurück zur Tür, Schritt für Schritt.
„Ist gut, Ni’yo. Es wird nicht mehr geschehen. Ich sage es allen, ich schwöre es“, stammelte er.
Dann floh er durch die Tür.
Das war leicht gewesen, dachte Ni’yo verwundert. Er hätte es schon früher tun müssen … aber da hatte er sich noch nicht als würdig empfunden, einem anderen Menschen mit dem Tod drohen zu dürfen.
„NUN WIRST DU EIN WAHRER AM’CHURI“, grollte der Drachengott in seinem Bewusstsein. Ni’yo spürte feurige Kraft in seinen Adern, die den Schmerz auslöschte. Er stand auf, verneigte sich in Richtung Tempelheiligtum.
„Ich werde dich nicht enttäuschen, Am’chur.“
Seit dieser Nacht hatte ihn niemand mehr angegriffen, außer Jivvin, der dabei trotz Hass und Wut stets die Ehrenregeln der Am’churi einhielt. Und wann immer er sich von Kamur, Pérenn oder dessen Freunden belästigt fühlte, genügte es, diese einfache, so harmlose Frage zu stellen, ob sie einen Rat annehmen wollten, und schon flohen sie vor ihm in alle Richtungen. Es hatte sein Leben erleichtert … aber manchmal, in schlaflosen Nächten, ertappte er sich dabei, wie er bedauerte, seine Peiniger verjagt zu haben. Natürlich sehnte er sich nicht nach den Schmerzen der Folter und der Todesangst zurück, aber er konnte sich nun nicht mehr mit ihnen messen. Ein Gang ins Dorf oder in den Wald bedeutete keinen Spießrutenlauf mehr. Keine Giftfallen mehr, die er im Voraus erahnen musste. Kein Nervenkitzel. Nur Jivvin versuchte überhaupt, gegen ihn anzutreten, und außer diesem einzigen verbliebenen wirklichen Feind sprachen nur noch die Großmeister zu ihm. Ein einsames, stilles Leben, in dem er manchmal wochenlang kein Wort sagte, vor allem, wenn Jivvin auf Reisen war. Lieber ertrug er Jivvins kalten Hass als all die Einsamkeit …
Ni’yo drängte die sinnlosen Gedanken zurück; was geschehen war, war geschehen. Das Haupttor war verwaist. Entweder hatte Leruam die Händler ins Haupthaus geführt und bewirtete sie dort, oder sie waren bereits mit Jivvin aufgebrochen. Das musste ihn nicht weiter kümmern, er wollte auf die Jagd. Warum nur hatte er trotzdem das Gefühl, in die falsche Richtung zu gehen?
6.
Jivvin begutachtete aus den Augenwinkeln die Männer, die zu den Händlern gestoßen waren. Von ursprünglich acht war die Gruppe mittlerweile auf über zwanzig angewachsen. Sie trugen alle die gleiche Tracht, sprachen den gleichen Dialekt. Ihre Lasttiere waren mit Stoffen beladen und niemand von ihnen trug eine gefährlichere Waffe als einen Dolch. Und doch, er fühlte sich
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