Die Ehre der Am'churi (German Edition)
scharfer Hühnersuppe, was vielleicht angenehm sein würde an einem heißen Tag wie diesem. Er blickte in den Raum hinein. Dutzende angsterfüllte Gesichter starrten zurück. Innerlich seufzend wandte er sich um. Sinnlos. Wozu diese armen Kinder mit seiner Anwesenheit quälen? Sie trugen doch keine Schuld an dem, was er war. Eine abscheuliche, Angst einflößende Kreatur …
Sein Hunger war geweckt, es war ein Fehler, an Essen zu denken. Ni’yo beschloss, jagen zu gehen und sich selbst etwas zuzubereiten. Auf diese Weise schadete er niemandem und erschreckte keine kleinen Jungen.
„Hungrig?“
Er fuhr zusammen, hatte nicht gespürt, wie sich jemand an ihn heranschlich.
Kamur stand hinter ihm, hielt sich fluchtbereit auf Abstand. Wären sie nicht in Rufweite des Haupthauses, hätte er sicherlich nicht gewagt, Ni’yo auch nur anzusehen.
Der junge Am’churi zog die Augenbrauen hoch und musterte Kamur aufmerksam. Vor etwa einem Jahr waren Kamur und Perénn in Gefangenschaft geraten – Schattenelfen hatten ihnen aufgelauert. Zwar war ihnen rasch die Flucht geglückt, aber seither waren beide nicht mehr fähig, den Tempel zu verlassen. Schon mehrfach hatten sie darum gebeten, aus Am’churs Diensten entlassen zu werden, fühlten sich nicht als vollwertige Krieger. Der Drachengott hatte es jedes Mal verweigert. Was ihnen in der Gefangenschaft widerfahren war, erzählten sie niemandem, außer Leruam. Es wurde von Folter gemunkelt und heiß spekuliert, was die Kalesh überhaupt von ihnen gewollt haben mochten. Ni’yo beteiligte sich nicht daran, obwohl es ihn durchaus interessierte. Immerhin war dies nicht der erste Übergriff auf Am’churi gewesen …
Kamur erwiderte den forschenden Blick nervös.
„Darf ich dir einen guten Rat geben?“, wisperte Ni’yo sanft, lächelte dabei aber böse. Wie erwartet wurde Kamur leichenblass und wich einige Schritte zurück.
„Es war doch nur eine Frage!“, rief er hastig. „Nichts für ungut!“ Er rannte so schnell davon, wie es mit seiner Würde als Meister der Kriegskunst gerade noch zu vereinbaren war.
Ni’yo rückte Bogen und Köcher zurecht, überprüfte, ob sein Chi’a fest verzurrt war und marschierte entschlossen zum Haupttor. Als Meister war es ihm erlaubt zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte. Nur, wenn er längere Zeit fortzubleiben gedachte, musste er es einem der Großmeister mitteilen.
Beinahe tat ihm Kamur leid. Er überdachte die kurze Begegnung noch einmal. War Kamurs Frage wirklich so spöttisch gewesen, wie er sie empfunden hatte? Im Nachhinein war er nicht mehr ganz sicher, vielleicht hatte er dem Mann Unrecht getan?
Was soll’s. Schließlich habe ich auch nur eine Frage gestellt.
Ni’yo dachte zurück an diese eine Nacht vor so vielen Jahren. Die Nacht, in der sein schlimmster Feind ihm das Leben gerettet, ihn wie ein menschliches Wesen behandelt hatte. Die Nacht, in der diese harmlose Frage, die er Kamur vorhin stellte, eine besondere Bedeutung erhalten hatte.
Leise öffnete sich die Tür. Ni’yo wusste, dass es Kamur war, er erkannte den Schritt des Adepten. Noch immer war er viel zu schwach, um sich zu wehren, um an Flucht auch nur zu denken. Ausgelaugt von dem Lähmungsgift, das noch in seinen Beinen wirkte; gequält von dem anderen Gift, mit dem die unzähligen Holznadeln getränkt gewesen waren und ihm noch immer brennende Schmerzen bescherte; ausgezehrt von dem unendlichen Kampf gegen das Ersticken; verwirrt und bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert von dem, was Jivvin ihm geschenkt hatte. Das Wissen, das er vielleicht eine abstoßende, hassenswerte Kreatur war, aber dennoch zumindest ein einziges Recht besaß. Das Recht, einen würdevollen, ehrenhaften Tod zu sterben. Endlich wusste er, warum er all die Jahre um sein erbärmliches, nutzloses Leben gekämpft hatte. Welchen Sinn seine verdorbene Existenz besaß. Nie hatte Am’chur ihm diese Frage beantwortet, und Leruams Weisung, dass jeder Mensch sich selbst darauf eine Antwort geben musste, hatte nicht geholfen.
„Wieso bist du frei?“, zischte Kamur wütend, hielt die Überreste der Fesseln in das schwache Licht, das die aufgehende Sonne durch die Fenster sandte. „Wer hat sie durchgeschnitten? Wer hat dir geholfen?“ Jedes einzelne Wort begleitete der ältere Junge mit einem Tritt. Stöhnend rollte Ni’yo sich zusammen, versuchte, Kopf und Unterleib vor der Wut seines Peinigers zu schützen.
„Niemand hat mir geholfen“, log er. „Würde ich sonst noch
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