Die Ehre der Am'churi (German Edition)
den Gefechten und verschwanden zwischen den Bäumen. Hoffentlich waren ihre Verluste nicht zu groß! Ob sie wirklich nur seinetwegen angegriffen hatten?
„Flieh, Bruder, lass unser Opfer nicht umsonst gewesen sein! Ich weiß nicht, warum die Kinder des Kalesh dich hassen, flieh, bevor sie dich töten!“ Lynea stand hinter ihm. Sie hatte sich verwandelt: Langes, silberglänzendes Haar fiel über ihre bloßen Schultern, sie musterte ihn prüfend aus bernsteinfarbenen Augen. Er hatte sie zuletzt gesehen, als sie noch fast ein Säugling gewesen war, ein wildes kleines Mädchen, das schon mit Wölfen gespielt hatte, als es kaum laufen konnte. Neunzehn Jahre lang hatte er sie vermisst, und nun blieb keine Zeit für Worte. „Deine Witterung führte mich zu dir. Wenn du überlebst, werde ich dich wiederfinden.“ Sie sank in sich zusammen, Pelz überzog ihr Gesicht, ihren Körper, die Gliedmaßen streckten und krümmten sich, bis sie wieder ein Wolf geworden war. Nur Augenblicke später war sie in den Schatten der Bäume verschwunden, gemeinsam mit ihren Gefährten. Die Elfen folgten ihnen nicht.
Dafür suchten sie nach ihrem verlorenen Gefangenen, wie Ni’yo allzu rasch klar wurde. Sie umringten ihn zu Dutzenden. Jeder Gedanke an Flucht war aussichtslos. Wütend auf die Elfen, denen er nicht entkommen konnte, auf Am’chur, der aus irgendeinem Grund Schuld an diesem ganzen Elend trug, auf Leruam, der ihn nicht vorgewarnt hatte, auf Jivvin, der einfach nicht hier war, wenn man ihn schon einmal brauchte, und am allermeisten auf sich selbst, stellte sich Ni’yo dem Kampf. Drachenwut pulsierte in seinen Adern, er spürte die Verwandlung und begrüßte sie wie niemals zuvor. Sein warnendes Raubtiergrollen hielt die anrückenden Elfen auf Abstand. Seine Hände wurden einmal mehr zu tödlichen Pranken. Er wuchs, und wurde so stark, wie nur ein Halbdrache es sein konnte. Wie gerne hätte er jetzt noch Flügel gehabt, dann würde er allen Feinden davonfliegen!
„Du kannst nicht entkommen, Am’churi!“, lachte einer der Elfen. „Du wirst sterben, genau wie dein Feind!“
Ni’yo erkannte den Kalesh, der bereits vor einigen Wochen zu ihm gesprochen hatte. Unzählige Fragen schossen ihm durch den Sinn, doch für keine von ihnen war jetzt die richtige Zeit – die Elfen griffen an. Sein deformierter Kiefer erlaubte zwar tödliche Bisse, verhinderte jedoch jegliche Sprache. Kreischend vor Zorn schlug er um sich, fegte dutzende Angreifer aus dem Weg und rannte, schneller und ausdauernder als jeder Mensch. Er spürte die Kalesh im Nacken, die ihm in Schattengestalt folgten. Winzige Pfeile schlugen in seinen Körper ein, kaum länger als ein menschlicher Daumen. Winzig genug, um unter seine Schuppen gleiten und ihn verletzen zu können. Ni’yo rannte noch schneller, überwältigte einige der Elfen, die nach ihm greifen wollten, zerbrach die Krummsäbel seiner Feinde. Er wusste, es war Lähmungsgift in den Pfeilen, dem er auch mit Drachenwut nicht entkommen konnte. Doch er kämpfte, bis er sich am Boden wieder fand und kein Muskel mehr gehorchen wollte. Keuchend rang er um Atem, als das Gift ihn völlig überwältigte und die Kraft des Gottes ihn verließ. Warum verwandelte er sich nicht vollständig? In den letzten Augenblicken vor dem Tod gewährte Am’chur seinen Erwählten doch die Möglichkeit, zum vollkommenen Drachen zu werden und die Feinde mit sich in die Ewigkeit zu nehmen!
„DIESMAL NICHT, NI’YO“, grollte Am’chur, und verließ ihn.
„Atmet er noch?“, zischte ein Elf über ihm. Ni’yo konnte ihn nicht sehen, obwohl seine Augen weit aufgerissen waren. Die Welt versank in Schatten und Schleiern. Panisch wurde ihm bewusst, dass er weder ein- noch ausatmen konnte und am ganzen Körper gelähmt war.
„Kaum noch, er hatte zu viel. Hol das Gegengift, wir brauchen ihn!“
Ni’yo konnte weder sehen noch spüren, was die Elfen mit ihm anstellten, er wusste nur, dass unzählige Hände ihn grob durchschüttelten und er nach qualvollen Momenten des Erstickens wieder Luft bekam.
„Falls du mich hörst, Am’churi: Das war deine letzte Gelegenheit zur Flucht gewesen. Wir lassen dich nicht mehr erwachen, bis wir in den Hochebenen angelangt sind. Dort wirst du deinem Feind begegnen, wir wussten schon, warum wir euch getrennt haben! Also, träume von einer besseren Welt, Drachenkrieger. In dieser hier wartet nur noch Schmerz und Tod auf dich.“
Diese Worte begleiteten Ni’yo in die Dunkelheit, doch sie
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