Die Ehre der Am'churi (German Edition)
als Ganzes, wie es richtig war. Wer sie kaute, litt noch Tage später an dem beißenden Geschmack, den sie im Mund hinterließ.
„Es wird wohl eine Stunde oder länger dauern, bis sich die Wirkung zeigt, lass uns noch ein wenig weitergehen. Wir kommen einfach zu langsam vorwärts“, sagte er leise.
Gegen seine Überzeugung nickte Jivvin. Es stimmte, sie bewegten sich zu langsam, aber eigentlich waren sie beide nicht in der Verfassung für weitere Anstrengungen. Er schlug ein bedächtiges Tempo an und hielt dabei Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Eine halbe Stunde verstrich auf diese Weise, in brütendem Schweigen.
Plötzlich torkelte Ni’yo und brach ohne Vorwarnung in die Knie.
„Was …“ Jivvin wurde mit zu Boden gerissen. Hastig drehte er sich, fing seinen Gefährten gerade noch mit der Rechten ab, bevor der mit dem Kopf aufschlagen konnte. Ni’yo blinzelte kurz zu ihm hoch, ohne ihn zu erkennen, dann sank er mit einem leisen Seufzer in sich zusammen und schlief ein.
Verblüfft überprüfte Jivvin den langsamen Herzschlag, die tiefen Atemzüge – kein Zweifel, das war Schlaf, keine Ohnmacht. Die Rauschbeere wirkte bereits, und das mit Macht.
„Oh Am’chur! Warum nur, wie kann die Beere jetzt noch so giftig sein?“, rief er verzweifelt. Er wusste, was auf diesen Schlaf folgen würde … In allen sieben Dialekten Arus fluchend hob er sich Ni’yo auf die Schultern und suchte so rasch wie möglich nach einem Ort, an dem sie unterkriechen konnten. Es würde schlimm werden!
Gierige Hände wanderten über seinen Körper. Ni’yo spürte sie deutlich, aber er konnte sich nicht wehren. Tastende Finger, die langsam, unaufhaltsam jeden Winkel seines nackten Leibes erkundeten. Er war bewegungsunfähig, kein einziger Muskel gehorchte seinen verzweifelten Befehlen. Wie gerne hätte er geschrien, um sich geschlagen, irgendetwas, um diese Qual zu beenden! Warum nur war er so hilflos? Es wäre leichter zu ertragen, würde sein Peiniger schneller und härter vorgehen. Schläge, Peitschenhiebe, selbst Pérenns vergiftete Nadeln wären besser als dieses scheinbare Liebkosen. Obwohl es kein Zeichen dafür gab, wusste Ni’yo mit absoluter Sicherheit, dass er nicht aus Liebe oder Verlangen angefasst wurde, sondern Hass. Dem Willen, ihn zu quälen. Offenbar hatte derjenige, der hier mit ihm spielte, alle Zeit der Welt, und keine Angst davor, dass Ni’yo sich verteidigen oder angreifen könnte. Der Hass des Unbekannten brannte wie Feuer auf der Haut. Ni’yo war wehrlos ausgeliefert.
Als die Hände sich seines Geschlechts bemächtigen, schrie er innerlich auf. Fiel in Panik, als er die grausame Erregung spürte, die ihm aufgezwungen wurde. Eine raue Stimme lachte, sprach Worte, die er nicht verstand. Doch er erkannte, wer sie sprach.
Jivvin.
Jivvin benutzte ihn, genoss offensichtlich das furchtbare Spiel, erfreute sich an den Reaktionen seines Körpers, die Ni’yo nicht mehr kontrollierte. Jivvin, der ihm die Rauschbeere gegeben hatte.
Die starken Hände drehten ihn um, auf den Bauch, winkelten seine Beine an.
„Jivvin, NEIN!“ Hatte er das laut gerufen? Aber warum hörte es dann nicht auf? Ni’yo schluchzte verzweifelt, als sich der Körper seines Feindes an ihn drängte. Wenn er doch nur sterben könnte … Am’chur, wann würde es endlich aufhören?
Jivvin biss sich auf die Fingerknöchel. Die Alpträume hatten schon vor einer Weile begonnen, nachdem Ni’yo etwa zwei Stunden lang wie tot geschlafen hatte. Zuerst hatte er sich nur leise stöhnend auf seinem Deckenlager hin- und hergeworfen, doch seit einigen Minuten schrie er laut.
„JIVVIN, NEIN!“, gellte es durch den Wald. Immer wieder.
Jivvin saß mit dem Rücken zu ihm, hatte die Schlingen gelöst, um möglichst weit fliehen zu können. Er wollte nicht mit ansehen, wie Ni‘yo sich quälte, gefangen in Träumen, die so wahrhaftig wie das echte Leben erschienen. Das Betteln und verzweifelte Weinen zerschnitt ihm das Herz. Ni’yo hatte nicht einmal um sein Leben gefleht, als er glaubte, Jivvin würde ihn hinterrücks abschlachten. Selbst als er noch ein halbes Kind war, gefoltert und vergiftet wurde von jenen, die seine Brüder sein sollten, hatte er nicht um Gnade gebeten oder derart erbarmungswürdig geweint. Was konnte es nur sein, das er im Rausch sah und durchlebte? Was könnte er, Jivvin, ihm antun, um so viel Leid zu verursachen?
„Bitte, nicht noch einmal …“, wisperte Ni’yo gebrochen.
Jivvin zuckte herum, starrte auf
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