Die Ehre der Am'churi (German Edition)
klammerte sich mit einer Hand an einen Stein, genau an der Sturzkante des Wasserfalls. Doch gegen die Urgewalt des Flusses konnte er sich nicht halten, er rutschte ab und glitt über den Rand. Mit einem unhörbaren Schrei auf den Lippen fiel er in die Tiefe.
Ni’yo wurde nach vorne gepeitscht, ein Schlag durchfuhr seinen gesamten Körper. Glühende Schmerzen loderten in seiner rechten Hand. Er schrie gellend auf, laut genug, dass er sich selbst hören konnte. Seine Füße steckten fest in den Felsspalten, verhinderten dadurch den Sturz – für den Moment. Das war jedoch mehr Fluch als Gnade, denn es fetzte ihm regelrecht die Haut von den Knochen. Das strömende Wasser drückte ihn fortwährend in den Fall hinein, und Jivvin … Jivvins Körper hing in der Tiefe, mit dem gesamten Gewicht zog er an Ni’yos Handgelenk. Das Reißen, der Druck des Wassers war unerträglich! Ni’yo schrie, bis er keine Luft mehr hatte. All seine Muskeln waren überspannt, er klammerte sich verzweifelt an einen Felsen und versuchte, der Panik Herr zu werden.
Wenn er Jivvin loswerden könnte, dann hätte er vielleicht eine Chance, aber so würden sie beide sterben.
Ni’yos rechter Fuß glitt aus dem Spalt, sofort trieb er weiter auf den Rand zu. Hastig suchte er Halt an dem Felsen, der vor ihm aufragte. Das Wasser trieb ihm die Beine auseinander, er konnte es nicht verhindern. Auch der andere Fuß rutschte, getrieben von der Urgewalt des Wassers. Sofort verhundertfachte sich der Druck, der ihn ins Nichts stürzen wollte, und Jivvin rutschte spürbar tiefer. Ni’yo hing nun im Spagat vor dem Felsen, schluckte dabei unendliche Wassermengen. Immer wieder wurde er von der Strömung unter die Oberfläche gerissen und gegen den Stein geschleudert, bis er von Kopf bis Fuß zerschlagen war. Er kämpfte in Todesangst, er musste raus hier! Fort von dem toten Gewicht, das ihn fesselte. Sich von Jivvin befreien, egal wie, ganz gleich zu welchem Preis.
Nein. Du würdest nicht leben können mit dieser Schuld.
Diese Stimme war so klar und laut, dass sie den Wasserfall übertönte, die Angst in ihm zum Schweigen brachte. Es war seine eigene Stimme, und sie schenkte ihm einen Augenblick Ruhe.
Am’chur, hilf!
Ni’yo stemmte sich mit der Linken gegen den Felsen, atmete tief durch, hielt dann die Luft an, spannte jeden einzelnen Muskel und riss, während er aufbrüllte, mit aller Kraft seinen rechten Arm zu sich heran. Der nachfolgende Ruck löste unerträgliche Schmerzen aus, doch er verdrängte es.
Atmen.
Am’chur, gib mir Kraft!
Einatmen. Ausatmen. Luft anhalten. Schreien und ziehen! Kurz bevor Jivvins Gewicht ihn wieder als Schlag treffen konnte, schlossen sich Ni’yos Finger um die Kette. Wieder riss es ihn nach vorne, doch weniger hart diesmal; er hatte durch die Kette Kontrolle gewonnen.
Atmen.
AM’CHUR!
Einatmen. Ausatmen. Luft anhalten. Schreien und ziehen!
Eine Hand tauchte auf, glitt Halt suchend über die Felsen, verschwand dann wieder. Noch einmal zerrte Ni’yo mit aller Kraft, die er noch hatte, obwohl er spürte, dass es zu Ende ging. Wieder konnte er die Fessel verkürzen, umklammerte nun Jivvins gefesselte Hand. Es kam keine Reaktion – Jivvin versuchte nicht, mitzuhelfen.
Er ertrinkt, wenn er es nicht schon längst ist, schnell jetzt!
Am’chur, gib mir deine Kraft!
Heißer Zorn floss durch seine Adern, die Macht des Gottes erfüllte ihn.
Mit einem letzten Aufbäumen aller Reserven zerrte er Jivvins Körper über den Rand, und brachte ihn vor sich. Jivvin war bewusstlos, wehrte sich nicht, als er mit dem Rücken gegen den Fels gepresst wurde, von Ni’yo halb zu Tode gequetscht. Eine kurze Weile der Ruhe gestattete sich Ni‘yo, schnappte nach Luft, hustete und spuckte aus, was die kochenden Wasserwirbel ihm in Mund und Nase trieb. Einfach nur Kraft sammeln, ohne von Jivvin in die Tiefe gezerrt zu werden.
Der Zorn war verflogen, hier, im Element der Flussgöttin Ikalla, hatte Am’chur nicht viel Macht, um den Seinen beizustehen. Es hatte geholfen.
Doch lange konnte er nicht warten. Die eisige Kälte und die Gewalt der Fluten verzehrten seine Kraft. Wenn er leben wollte, musste er jetzt handeln. Er spürte, wie Jivvin krampfhaft zu husten begann – dieses Leben lag ebenfalls in seiner Hand!
Zuerst versuchte Ni’yo, seine Beine anzuziehen, doch schnell wurde ihm klar, dass er so unweigerlich über die Kante gespült werden würde. Also musste er sich der schwindenden Kraft seines Armes anvertrauen. Er
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