Die Ehre der Am'churi (German Edition)
sank.
„Was ist nur los mit dir?“ Jivvin folgte der Bewegung und hockte sich vor ihm zu Boden.
„Was willst du von mir?“, presste Ni’yo mühsam hervor.
„Verdammt, das fragst du noch? Du schleichst hier neben mir her wie ein ängstliches Lamm, das die Schlachtbank riecht! Ich weiß nicht, was in deinen Träumen geschehen ist, zumindest nicht genau. Dass du mich schon vorher nie mit Freude gesehen hast, ist mir klar, dass du mich jetzt, nach diesen Träumen, noch viel weniger gerne siehst, auch. Aber sag mir nicht, du wärst zerbrochen, Kleiner, das glaube ich dir einfach nicht!“
Verblüfft starrte Ni’yo ihn an, ohne zu antworten.
„Schrei mich an! Verfluche mich, beschuldige mich, schlag auf mich ein, fordere mich zum Zweikampf, was du willst, aber hör auf zu schweigen! Wenn du glaubst, ich hätte deine Ehre verletzt, dann fordere mein Blut. Was auch immer du tust, sei ein Am’churi, kein Lamm!“
Fassungslos ließ Ni’yo diesen Ausbruch über sich ergehen, rang sichtbar um Worte. Etwas an der Art, wie er stumm die Lippen bewegte, weckte Jivvins Aufmerksamkeit.
Volle, schön geschwungene Lippen.
Irritiert versuchte er, diesen Gedanken zur Seite zu schieben. Er hatte Ni’yo immer als Ratte gesehen, nicht, weil er ihn als so hässlich empfand, sondern einfach, weil es zu passen schien. Eine bösartige Kreatur, mit zu viel Macht in sich, zerstörerische, tödliche Macht. Die Quelle von Hass und Wut, die ihn so viele Jahre lang beeinflusst hatte. Etwas von dieser Wut zeigte sich offenbar nach außen bei diesen Gedanken – Ni’yo wich ein Stück vor ihm zurück.
Konzentriert blickte Jivvin auf Ni’yos Mund und blendete alles andere aus. Schön. Anders konnte man das nicht nennen, was er sah.
„Jivvin?“
Er zwinkerte, verwirrt über das, was er empfand. Da war das vertraute, hassenswerte Wesen, das er schon so lange töten wollte. Und da war der schöne Mann, der vollkommene Krieger, dessen Körper er in der Höhle erkundet hatte. Warum war ihm das nicht schon da aufgefallen? Jivvin versuchte sich von all diesen wirren Gefühlen zu befreien. Er war ein Mann. Ni’yo war ein Mann. Dazu sein Feind.
Er sah Tränen in Ni’yos Augen schimmern, Schuld erfasste ihn. Ob er ihm Angst einjagte? Wieder erinnerte er sich an den Vorfall, der so viele Jahre zurück lag, als er einen vierzehnjährigen Jungen fand, gefoltert und allein gelassen von allen. Auch da hatte er etwas anderes als Hass empfunden und Ni’yo nicht als abscheuliche Kreatur gesehen.
Entschlossen schob er dieses Rätsel zur Seite, dafür war jetzt einfach keine Zeit. Wahrscheinlich war es sowieso nur Spinnerei, Wunschträume, geboren aus dunkler, verbotener Leidenschaft …
„Ich bin nicht zerstört, jedenfalls nicht innerlich“, flüsterte Ni’yo. „Ich kann Traum und Wirklichkeit unterscheiden, ich weiß, dass nichts von dem, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe, wahrhaftig geschehen ist. Es wird dauern, bis ich die Erinnerung abschütteln kann, aber ich werde es schaffen.“
„Was ist es dann?“, fragte Jivvin leise.
„Ich kann nicht mehr, das ist es. Ich bin so müde, und die Schmerzen sind mehr, als ich aushalten will, verstehst du? Die Wunden heilen zu langsam, mein Körper kommt nicht mehr nach. Nachts wage ich nicht mehr zu schlafen, und ich warte nur noch auf den Moment, an dem du mich nicht mehr mitschleppen kannst oder willst. Du scheinst dir Gedanken darüber zu machen, so intensiv, wie du mich beobachtest.“ Wieder senkte er den Blick, die Wangen vor Scham gerötet.
„Warum sagst du denn nichts?“, grollte Jivvin, „Meinst du, ich hätte dich gleich von deinem Elend erlöst, wenn du nur sagst, dass du dich ausruhen musst? Du bringst dich lieber mit deiner Sturheit und deinem verdammten Stolz um, oder? Sag doch einfach: Jivvin, lass mich einen Tag lang rasten, danach kommen wir sicher doppelt so schnell voran! Wir haben einen Waffenstillstandspakt, erinnerst du dich nicht?“
Ni’yo duckte sich unter dem Zorn, mit dem Jivvin ihn überschüttete.
„Woher sollte ich das wissen?“, murmelte er.
„Du hast mich aus dem Wasserfall gerettet! Glaubst du denn, ich habe gar keine Ehre im Leib?“
„Es tut mir leid. Ich dachte, es wäre besser, wir bringen das hier einfach hinter uns, so schnell es nur geht. Es ist nicht sicher, dass die Kalesh uns aufgegeben haben.“
„Lass das Denken. Und sag, wenn du Hilfe mit deinen Verletzungen brauchst“, fauchte Jivvin.
„Du kannst mir nicht helfen.
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