Die Ehre der Am'churi (German Edition)
ordentlich, also wollte ich wenigstens den Druck der Fessel mildern.“
„Sehr umsichtig. Und du brauchst die Schlinge aus dem gleichen Grund?“
„Zum einen.“ Jivvin zögerte. „Zum anderen hab ich die Schulter ausgekugelt.“
Ni’yo fluchte – solche Verletzungen gehörten zu den Ausnahmen, bei denen die extrem schnellen Heilfähigkeiten der Am’churi von Nachteil waren. Wenn das Schultergelenk allzu rasch in seiner neuen, unnatürlichen Stellung verheilte, würde es steif bleiben, und sich nicht mehr ohne Gewalt in seine gewohnte Position bringen lassen.
„Vorwärts, ich renke es ein, sonst ist es zu spät.“
Gemeinsam lösten sie die Schlingen, bis sie wieder auf eine Kettenlänge Abstand zueinander gehen konnten.
„Bist du schon wieder kräftig genug dafür?“, fragte Jivvin misstrauisch.
„Nein. Aber wenn du es nicht allein versuchen willst, musst du mit mir vorlieb nehmen“, knurrte Ni’yo gereizt, stellte sich vor seinem Feind in Positur und ergriff dessen linken Arm. Ihm war anzusehen, dass es ihm nicht gut ging, er schwankte und wirkte zittrig. Doch sein Blick loderte vor Entschlossenheit, die Lippen waren fest aufeinander gepresst. Jivvin setzte sich so aufrecht wie möglich gegen den Baumstamm, der ihm schon die ganze Zeit als Lehne gedient hatte. Dann umklammerte er mit der Rechten eine Wurzel, damit er nicht von Ni’yos Kraft mitgerissen werden konnte.
Der setzte einen Fuß gegen Jivvins Brust und wartete auf das Zeichen, dass es losgehen konnte.
„Jetzt!“ Ni’yo zog ruckartig nach vorne und oben, es krachte, als das Gelenk in die Pfanne zurück rutschte. Jivvin grunzte ächzend vor Schmerz, blieb einen Moment lang still sitzen.
„Hat es gereicht?“, fragte Ni’yo. Jivvin nickte nur stumm, froh, dass wieder Leben in seine tauben Finger kam.
Gemeinsam befestigten sie wieder die Schlingen um ihre Arme. Es zwang sie zwar zu einer kaum erträglichen Nähe zueinander, aber im Augenblick war es die einzige Möglichkeit.
Ni’yo aß kommentarlos, was Jivvin gesammelt hatte. Die kümmerlichen, halb vertrockneten Beeren und Wurzeln waren keine Mahlzeit, aber besser als nichts.
„Lass uns dem Bach folgen, er fließt in die passende Richtung. Selbst, wenn wir nicht weit kommen, finden wir vielleicht noch ein bisschen Grünzeug“, schlug er vor.
„Kannst du denn laufen?“
„So lange und so weit wie es sein muss.“
Jivvin ließ sich von dem leichten Tonfall nicht täuschen, er wusste, wie entkräftet Ni’yo war.
Trotzdem nickte er, und langsam zogen sie los.
„Ni’yo, schau, was ich gefunden habe! Vielleicht – nun, ich meine, ich weiß, du kannst Schmerzen ertragen, aber du siehst wirklich ziemlich am Ende aus.“ Jivvin schnitt eine verärgerte Grimasse über sein eigenes Gestammel und streckte seine Hand vor. Eine unscheinbare kleine Frucht lag darin, die ein wenig aussah wie eine vertrocknete Hagebutte.
„Rauschbeeren?“ Ni’yo sog scharf die Luft ein und starrte ihn vorwurfsvoll an. „Du kennst die Gefahr! Ja, wenn man Glück hat, nimmt sie einem für viele Stunden alle Schmerzen und schenkt heilsamen Schlaf, aber wenn das Gift in ihr noch zu stark ist, durchlebt man anschließend eine Hölle fürchterlicher Alpträume, die wahrhaftig erscheinen.“
„Es ist spät im Jahr, wie viel Gift kann noch in ihr sein? Möglicherweise ist kaum genug übrig, dass du eine Wirkung spüren würdest.“
„Du weißt, ich neige nicht dazu, Glück zu haben“, murmelte Ni’yo.
„Ja, das weiß ich. Du bist ansteckend.“
„Es ist nicht meine Schuld …“
„Schon gut, nein, es ist nicht deine Schuld, was uns geschehen ist, das wollte ich damit nicht sagen“, wiegelte Jivvin hastig ab. „Trotzdem hast du dich völlig verausgabt. Im Moment hängen wir zu dicht aneinander, ich spüre, dass dein Herz viel zu schnell schlägt, dass du immer wieder zusammenfährst, weil du im Laufen einzuschlafen drohst. Ich denke mal, wenn ich mir deinen Rücken ansehe würde, fände ich jede Menge frisches Blut, und deine Füße sind kein schöner Anblick. Ja, Rauschbeeren sind ein riskantes Heilmittel, aber es gibt hier nichts anderes.“
Mit flackerndem Blick starrte Ni’yo auf die so harmlos erscheinende Frucht. „Warum kümmert es dich, wie schlecht es mir geht?“, fragte er niedergeschlagen.
„Immer die gleiche Frage, Kleiner?“, knurrte Jivvin. „Du bist lebendig nützlicher für mich, nimm es einfach hin!“
Seufzend nahm Ni’yo die Rauschbeere und schluckte sie
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