Die Ehre der Slawen
und wie lange diese gegen die erdrückende Übermacht gehalten werden konnte, dies wussten nur die Götter.
Das hoch auflodernde Feuer, das sogar die höchsten Baumwipfel um einiges überragt hatte, konnten Thietmar und Rapak zwar sehen, wussten jedoch nichts um seine Bedeutung. Im ersten Schreck glaubten sie, dass nun die Dorfseite am Torhaus in hellen Flammen stehen müsse. Umso größer war daher ihre Erleichterung, als das Feuer nach wenigen Minuten wieder in sich zusammengefallen war. Das Dorf konnte es also nicht gewesen sein, was dort gebrannt hatte.
Wenn doch nur bald die ersehnte Hilfe käme!
Für einen kurzen Moment meinte Rapak das Raunen von vielen, sich nähernder Stimmen zu hören. Als er aber lauschend seine Ohren in die betreffende Richtung drehte, war nur das Rauschen des Windes zu vernehmen. Schade, er musste sich getäuscht haben.
»Ich muss mal«, meldete sich Thietmar mit leiser Stimme von unten.
»Äh, was?«
»Ich muss mal in die Büsche«, wiederholte der kleine Junge zaghaft sein dringendes Anliegen.
»Ach so.«
Rapak streckte und reckte sich. In der Tat, der Kleine hatte recht. Sie hatten fast den ganzen Tag auf dem Baum verbracht, um ständig informiert zu sein. Nun merkte auch er, wie unbequem es inzwischen geworden war. Außerdem bekämen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit heute sowieso nichts Interessantes mehr zu sehen.
Steifbeinig und ächzend erhob sich der große Schwarzhaarige von seinem Ast, stützte sich mit der rechten Hand am Stamm ab und drückte mehrmals seinen schmerzenden Rücken durch. Als sein Blick dabei zufällig noch einmal zum See schweifte, erstarrte er mitten in der Bewegung.
»Thietmar, sieh!«, rief er aufgeregt nach unten.
»Was?«
»Dort, die Boote!«
Der kleine Junge folgte dem ausgestreckten Arm seines Freundes mit den Blicken und hätte vor Freude am liebsten laut aufgeschrien.
Acht, neun, nein zehn große Boote umschifften in diesem Moment gerade das rechte Ufer der Insel. Sie hielten genau auf die Stelle zu, wo nur noch ein kurzes Stückchen der Brücke in den See ragte.
Fünfzehn bis zwanzig gut gerüstete Slawenkrieger befanden sich in jedem der Boote. Während einige sich mit dem Segeleinholen beschäftigten, tauchten die anderen ihre langen Ruder ins Wasser, um so die letzte Wegstrecke möglichst schnell zurückzulegen. Als die ersten Dorfbewohner der nahenden Hilfe ansichtig wurden, brandete ein lauter Jubel auf, der sich in Windeseile über die ganze Insel fortpflanzte.
Rapaks Augen wurden feucht, als die Freudenausbrüche über den See hallten. Endlich! Endlich war Hilfe in Sicht. Fast zweihundert kampfbereite Burschen, aus allen Siedlungsgebieten der Moriczer, waren eingetroffen. Jetzt stand dem gierigen Raubritter eine annähernd ebenbürtige Streitmacht gegenüber. Das sah aber schon ganz anders aus als noch vor wenigen Augenblicken.
Noch bevor die ersten Segel fielen, konnte Rapak anhand der aufgemalten Stammessymbole die Herkunftsorte identifizieren. Drei der größten Boote kamen von der Inselburg Malchou 18 , fünf weitere von den vielen kleinen Siedlungen am Westufer und die letzten zwei Boote kamen gar vom anderen Ende des Kleinen Meeres, von der Insel des Friedens 19 .
Vor Freude riss Rapak die Arme empor und winkte heftig. Dabei vergaß er fast, dass er in luftiger Höhe auf einem dünnen Ast stand, und konnte nur noch mit viel Glück einen Zweig ergreifen, der ihn vor einem verhängnisvollen Sturz bewahrte.
Thietmar war inzwischen von der Freude seines großen Freundes regelrecht angesteckt worden und befreite sich mit fliegenden Fingern von seinem Leibriemen, der ihm bisher so sicheren Halt geboten hatte. Dabei sah er aus den Augenwinkeln, dass sich am Fuße des Baumes etwas bewegte.
Er beugte sich unvorsichtig weit zur Seite, um besser durch das Laub nach unten sehen zu können. Während er sich ganz auf den Boden konzentrierte, griff seine Hand an einem Ast vorbei. Er fasste ins Leere, verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die Tiefe. Einen angstvollen, spitzen Schreckensschrei ausstoßend brach er durch Laub und Äste, die seinen Sturz nur wenig bremsen konnten. Der erwartete harte Aufschlag blieb jedoch aus. Anstatt sich am Fuße des Baumes mit etlichen gebrochenen Knochen wiederzufinden, landete er genau in den Armen eines riesigen Mannes, der das Unheil gerade noch rechtzeitig hatte kommen sehen. Völlig verwirrt und zu Tode erschrocken starrte der Knabe in ein
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