Die Ehre der Slawen
oben und erschrak. Die hölzerne Barriere war mindestens drei Mal so hoch, wie er groß war.
Ein schier unlösbares Problem tat sich vor Thietmar auf. Ein Problem, woran er überhaupt noch nicht gedacht hatte. Aus der Ferne betrachtet sah die Palisadenanlage nicht so hoch aus, aber wenn man erst einmal davor stand, war sie ohne Hilfsmittel unüberwindlich.
Mit beiden Händen strich der Knabe ratlos über die glatten Eichenstämme und suchte nach irgendwelchen Vorsprüngen, Ritzen oder noch so kleinen Astlöchern. Vergebens. Das alte Holz war frei von jeglicher Baumrinde und fühlte sich hart wie Eisen an. Nirgends entdeckte Thietmar auch nur die winzigste Stelle, die seinen Fingern oder seinen Füßen auch nur den kleinsten Halt geboten hätte. Am liebsten hätte er vor Enttäuschung laut aufgeschrien und losgeheult wie ein alter Wachhund.
Aller Illusionen beraubt ließ er sich auf den Hosenboden nieder, schlang seine Arme um die Knie und legte seinen Kopf darauf. Tränen der Wut und der Hilflosigkeit verschleierten seine Blicke. Wie sollte er helfen? Was dächten seine neu gewonnen Freunde nur von ihm, wenn er schon bei der ersten kleinen Hürde jämmerlich versagte? Wie viele unschuldige Tote mochte dieser dreimal verfluchte Kampf wohl hervorbringen? All die Tränen und all das Leid, furchtbar!
Lange Zeit saß Thietmar einfach nur da und rührte sich nicht von der Stelle. Er sah nicht, wie sich über der Wiese die ersten zarten Nebelschleier bildeten und er spürte auch nicht, wie die kalte Nachtluft langsam seinen schmächtigen Körper emporkroch. Nur ein einziger Gedanke beherrschte sein aufgewühltes Gemüt: Wie komme ich auf die andere Seite, zu Oddar, dem Einzigen der mir in meiner Not noch beistehen und helfen kann?
Thietmars Gedanken drehten sich so lange im Kreise, bis ihm letztendlich davon schwindelte. Er schüttelte heftig den Kopf, schlug sich mit seinen kleinen Fäusten mehrmals gegen die Schläfen, und als ob dies den entscheidenden Gedankenblitz auslöste, fiel ihm plötzlich die einzig richtige Frage ein: Wie war überhaupt Udo mit seinen Blutknechten über die Palisade gekommen?
Die Lösung lag zum Greifen nahe und von einem Moment zum anderen sprang der kleine Junge auf die Beine. So etwas Einfaches, warum war er nicht gleich darauf gekommen!
In all den ganzen Geschichten, die sein geliebter Stari so trefflich erzählt hatte, Gott sei seiner Seele gnädig, kam es oftmals vor, wie edle Ritter eine wehrhafte Bastion belagerten. Zum Bezwingen des dunklen Horstes, in dem immer ein böser Schurke oder ein mehrköpfiger Drache hauste, wurden meistens lange Leitern benutzt. Nach der siegreichen Eroberung machte sich anschließend niemand mehr die Mühe, das Belagerungsgerät wegzuräumen. Wozu auch, wenn dann sowieso alles vorbei war.
Eigentlich hatte Thietmar nur den Fehler begangen und war an die Wallseite geschlichen, wo es am ruhigsten und am dunkelsten war. Deswegen hatte er auch keine Leitern oder so etwas in der Art sehen können. Er brauchte eigentlich immer nur an den Palisaden entlanglaufen und irgendwann musste er einfach an die Stelle kommen, wo Udos Mannen den Wall gestürmt hatten.
Von neuem Mut beseelt schöpfte Thietmar wieder Hoffnung und machte sich auf den Weg. Er brauchte auch gar nicht lange suchen, bis er das Gewünschte fand. Bereits nach der nächsten Krümmung konnte er die vielversprechenden Umrisse sehen, die sich im steilen Winkel an den Wall lehnten. Ein gutes Dutzend Leitern luden ihn regelrecht zum Emporsteigen ein. Zwar befand sich das Dorftor in unmittelbarer Nähe, aber die Fackeln, die man am Abend zuvor darauf entzündet hatte, waren längst heruntergebrannt und ragten nur noch als schwarze Stumpen in den Himmel. Auch konnte Thietmar nirgends Wachposten entdecken, sosehr er auch seine Augen anstrengte.
Sprosse für Sprosse erklomm der Knabe schließlich jene Leiter, die am weitesten vom Tor entfernt stand. Sein Herzschlag hatte sich vor Aufregung fast verdoppelt, als er den Palisadenrand überschauen konnte. An seinen zarten Händen klebten Harz und Baumrinde, seine Knie zitterten, aber sein Mut war ungebrochen.
Sorgfältig studierte Thietmar die nähere Umgebung, soweit er sie überblicken konnte. Infolge der Aufregung waren seine Sinne auf das Äußerste gespannt. Weder der kleinste Laut noch die leiseste Bewegung entgingen ihm. Es war auch, als ob die Zeit viel langsamer verrann als sonst.
Auf einem großen Platz, unmittelbar vor
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