Die Ehre der Slawen
dem Tore, brannte ein Feuer. Dort endlich sah er drei voll gerüstete Krieger, die sich reibend die Hände wärmten. Also hatte der ehrlose Udo es doch nicht versäumt, ein paar seiner Blutknechte als Wachtposten aufzustellen. Auch von etwas weiter hinten, nahe dem See, konnte Thietmar vereinzelte Stimmen und ein mäßig flackerndes Licht wahrnehmen. Wo aber steckte Oddar? Hatte er sich mit seinen Glaubensbrüdern in eine der Hütten zurückgezogen? War er überhaupt im Dorf?
Die letzte Frage erschreckte Thietmar zutiefst. Was wäre, wenn sein frommer Lehrer nun außerhalb des Dorfes übernachtete? Aber nein, das konnte nicht sein, denn sonst hätten ihn ja die Wenden gefunden, die am Waldrand lagerten.
Vorsicht und leise kletterte der Knabe über die Palisaden. Mit klammen Händen hielt er sich an den zugespitzten Baumstämmen fest und rutschte langsam auf der anderen Seite herunter, bis seine Zehenspitzen den Wehrgang berührten. Gleich einem lautlosen Schatten huschte seine Gestalt über die Bohlen und erreichte unbemerkt die Leiter, die vom Wehrgang herunterführte. Befreit aufatmend setzte er unbeschadet seine Füße auf den sandigen Boden.
»Lieber Gott im Himmel, steh mir bei«, flüsterte er leise ein Stoßgebet und suchte seine vor Aufregung zitternden Knie zu beruhigen. Seine Blicke wanderten währenddessen über den sternenklaren Himmel und hofften auf ein göttliches Zeichen.
Thietmar sah, wie die Sterne ihn anfunkelten, und er spürte die verborgene Anwesenheit des Himmlischen Vaters, der in diesem Moment ganz nah bei ihm war. Ein Hauch von Wärme machte sich in ihm breit, sein Pulsschlag beruhigte sich etwas und das Zittern in den Knien ließ langsam nach. Sein Glaube war so stark ausgeprägt, dass er überhaupt keine Zweifel an der göttlichen Zustimmung seines Planes hegte. Es würde alles gut werden, ganz bestimmt!
Innerlich gestärkt und mit neuer Zuversicht sah sich der kleine Junge weiter um, und dort, wie durch ein Wunder, öffnete sich die Tür eines nahe stehenden Hauses und ein leiser, einschmeichelnder Gesang erfüllte die Luft. Thietmars Herz begann vor Freude zu jubilieren. Ein kleiner, aber wohl geübter Chor trat im Gänsemarsch ins Freie hinaus und lobpreiste den Herren. Der Erste, der frommen Männer trug eine dicke Wachskerze vor sich her, deren tanzende Flamme er sorgsam mit der Hand abschirmte. Darauf folgte ein weiterer Mönch mit einem hoch erhobenen Holzkreuz. Die restlichen Brüder hielten ehrfürchtig ihre Häupter gesenkt und ihre Handflächen zum Gebet aneinandergepresst. Etwa auf halbem Wege zur nächsten Behausung verhielt die Prozession und stellte sich im Halbkreis um das erhobene Kreuz.
Nun trat der Mann mit der Kerze etwas vor und ließ das leise flackernde Licht auf das Zeichen des Herrn scheinen.
Thietmar stand wie angewurzelt im Schatten der Palisade und lauschte voller Ehrfurcht der nächtlichen Messe. Ob es sich um das Mitternachtsgebet oder bereits um die frühe Morgenmesse handelte, das wusste er nicht. Aber letztendlich war diese Sache egal. Wichtig war nur, dass er seinen frommen Lehrer wiedergefunden hatte und sich nun bestimmt alles wieder zum Guten wendete.
Mit ganz leiser Stimme summte Thietmar die vertraute Melodie mit, die er schon so oft gehört hatte. Mit dem Text als solchem hatte er so seine leidlichen Probleme, da dieser in der alten Sprache der Lateiner abgefasst war. Erst als der Gesang verstummt war und durch ein frommes Gebet abgelöst wurde, machte sich der kleine Junge auf den Weg.
»… der Geduldige hält aus bis zur rechten Zeit, doch dann erfährt er Freude …«
In diesem Moment hatte Thietmar die fromme Gemeinschaft erreicht und zupfte dem Vorbeter zaghaft an der Kutte.
»Ehrwürdiger Oddar verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, aber …«
Wie von einer Hornisse gestochen fuhr der Angesprochene herum und riss ungläubig die Augen auf.
»Thietmar, du? Du lebst?«
Etwas verlegen versuchte der Knabe ein entschuldigendes Lächeln. Er zuckte mit den Schultern, und weil ihm im Moment nichts Besseres einfiel, antwortete er einfach nur: »Ja, wie Ihr seht.«
Der Glaubensverkünder riss die Arme empor und freudige Worte sprudelten nur so aus seinem Mund hervor: »Meine Brüder, ein Wunder ist geschehen! Unser Schutzbefohlener ist heimgekehrt! Das verirrte Schäflein hat den Weg zu seinen Hirten zurückgefunden.«
Gleich darauf ließ er sich in die Hocke nieder, schlang seine hageren Arme um den schon
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