Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
auch mal gern etwas Abwechslung haben, zum Beispiel einen Ausflug machen oder in die Stadt gehen, mal was anderes sehen. Ich, zum Beispiel, möchte gern das Meer sehen.
Außerdem mangelt es uns an Intimsphäre. Nie ist man allein, wir stehen immer zusammen in einer Gruppe. Manchmal sind wir eine ganze Herde, wie Schafe auf einer Farm. Wir sind zwar streng nach Geschlechtern getrennt, aber von Privatleben kann trotzdem keine Rede sein. Nackt und bloßgestellt. Kein Strauch, kein Baum bietet uns auch nur den Hauch von Schutz vor den Augen der Vögel, der Häuser, der Menschen. Man will doch auch einmal allein sein.
Und ständig höre ich das schabende, schleifende Geräusch der Nachbarinnen und muss aus nächster Nähe mit ansehen, wie sie verdrecken. Und immer unter Frauen sein, Sie wissen das ja bestimmt, das ist auch nicht einfach.
Ich weiß gar nicht, wo die nächste Männergruppe steht. Ich kann sie von meinem Platz aus nicht sehen. Viele Kilometer müssen zwischen uns liegen. Ich frage Sie ernsthaft, woher die kleinen Windräder kommen sollen, wenn man uns nicht zusammenlässt. Denn auch bei uns funktioniert die Fortpflanzung nicht per Samenflug.
Aber selbst wenn man uns aufeinandertreffen ließe, wie sollte die Partnerwahl vonstatten gehen? Wir sehen uns alle zum Verwechseln ähnlich. Wir sind schlank und hoch und weiß und haben drei Arme. Schön, aber ohne Individualität. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Einige von uns haben zwar rote Streifen an den Armen, manche Arme und Köpfe sehen ein wenig anders aus, aber das sind minimale Unterschiede. Warum gibt es uns nicht in sonnengelb, grasgrün, himmelblau oder rosarot? Mit unübersehbaren Streifen oder Punkten am Bein und auf den Armen? Oder mit echter, moderner Kunst bemalt? Man verliert auf diese Weise die eigene Identität, verstehen Sie, was ich meine?
Aber die Gleichförmigkeit ist noch nicht alles. Seit einiger Zeit empfangen wir negative Schwingungen. Das irritiert uns. Wir tun hier nichts als unsere Arbeit unter extremen Bedingungen, und das ist dann der Dank. Meine Freundinnen hören schon gar nicht mehr hin, so sehr verletzt und kränkt es sie. Andere wehren sich auf ihre Weise. Gabriele steht schon seit Tagen still. Ich mache mir Sorgen um sie. Aber sie will nicht reden. Sie stellt auf Durchzug.
Wir spüren es ganz deutlich: Man mag uns nicht. Man hasst uns regelrecht. Man verwünscht uns. Man verteufelt uns.
Angeblich verunstalten wir die Natur. Dabei sind wir doch dreimal schöner als die Fernleitungen. Und wir können nichts dafür, dass uns im Winter schon einmal ein Eisklumpen von den Armen fällt, das ist uns selbst unangenehm. Auch der Schatten, den wir unwillkürlich werfen, die Drehgeräusche unserer Arme und die roten Warnlampen stören die Menschen. Aber wer hat uns denn konstruiert?
Sogar unsere Rentabilität wird angezweifelt. Man kämpft gegen uns. Bürgerinitiativen haben sich gebildet. Parteien streiten sich. Was soll nur aus uns werden?
Die Menschen, die so reden, sind nicht die, die uns bei lebendigem Leibe einbetoniert haben, sondern andere. Aber das macht für uns keinen Unterschied. Manchmal werden wir sogar mit Dreck beworfen und mit Transparenten verschandelt.
Wir haben das alles nicht gewollt. Wir haben uns dieses Schicksal nicht ausgesucht. Wir finden das auch nicht schön.
Jedenfalls, so geht es nicht weiter, habe ich beschlossen. Ich will nicht länger wehrlose Zielscheibe menschlicher Fehlplanungen sein. Ich habe in den letzten Monaten einen geheimen Plan entwickelt.
Sobald sich der nächste Mensch wieder meinem Bein nähert, werde ich mich rächen. Ich weiß, dass es ein paar Tage dauern kann. Aber ich habe Zeit. Wenn man einbetoniert ist, spielt Zeit keine Rolle. Ich werde ein Blutopfer bringen, habe ich mir vorgenommen. Nicht gerade Harakiri, aber doch in etwa so, als ob ein Soldat sich einen Fuß abhackt, um nicht mehr in den Krieg ziehen zu müssen. Es wird sich herumsprechen. Andere werden mir folgen, und am Ende wird die globale Befreiung aller Windräder stehen.
Wenn ich es nicht mache, macht es keiner. Mein Plan ist so gut, dass ich es kaum erwarten kann. Wann kommt der Tag?
Es fährt ein Auto über den Feldweg. Es hält direkt an meinem einbetonierten Bein. Ein Mensch steigt aus und sieht empor zu meinen Armen. Ich lasse sie kreisen, täusche Gleichmäßigkeit und Normalität und Zufriedenheit vor. Fünf Umdrehungen lang.
Dann schlage ich zu.
Mit einem Ruckeln klinke ich einen meiner drei
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