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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Arme aus, als er gerade nach unten zeigt, lasse ihn schnell wie einen Pfeil zu Boden schießen, sodass er den Menschen, der sich immer noch den Hals nach mir verrenkt, der Länge nach aufspießt.
    Der Schrei, der ungehört in der Einöde verhallt, verfängt sich zwischen meinen verbliebenen Armen und steigt mir zu Kopfe. Er klingt wie Musik. Das Lied der Freiheit.
    Nach diesem Vorstoß bin ich nicht mehr drehfähig. Aber das war es mir wert.
    Nach ein paar Tagen der Unruhe und großen Empörung unter den Menschen werden auch meine Freundinnen stillgelegt, und dann werden wir alle abgebaut. Ich habe gehört, wir sollen tatsächlich ans Meer verschickt werden. Wenn ich eines Tages das Meer nicht mehr sehen kann, mache ich das wieder so, das Armausklinken. Eigentlich müssten mir alle dankbar sein, aber einige maulen herum.
    »Es ist doch so schön hier in der Eifel!«, jammert Mechthild.
    »Ich reise nicht gern«, meint Gabriele.
    Einige haben Angst, wir werden getrennt. Andere fürchten, man wird Flugzeugpropeller oder Schiffsschrauben aus unseren Armen machen, Brückenpfeiler aus unseren Beinen. Aber so ist es nicht.
    Wir werden in Einzelteilen auf einen großen Haufen gestapelt und dann abtransportiert. Es geht nicht auf direktem Wege ans Meer. Wir kommen zunächst auf einen noch größeren Haufen zerlegter Windräder. Noch sind wir in der Eifel, aber es dauert sicher nicht mehr lange, und wir treten die große Reise ans Meer an.

Zehn Prozent
    Das Restaurant
Al Capriccio
war ausgebucht. Tische für insgesamt 40 Personen waren festlich gedeckt. Die Deko – Kerzen, Stoffservietten, Sträußchen aus blühenden Maiglöckchen – war ganz in Frühlingsgrün gehalten, farblich passend zu den schimmernden Raffrollos vor den hohen Fenstern und den Stuhlhussen aus Chintz.
    Das
Al Capriccio
war frisch renoviert, und heute war der Tag der Neueröffnung. Peter Zurheck, der Inhaber, strich zum hundertsten Mal über die grünen Tischläufer.
    Er war angespannt. Obwohl Marina alles perfekt vorbereitet hatte. Das war ihr sicher nicht leicht gefallen. Nicht nur, weil seine Ansprüche hoch waren, höher als irgendwo anders in diesem Metier, sondern auch wegen der Umstände.
    Zur Neueröffnung erwartete Zurheck politische und journalistische Prominenz. Sein Sommelier würde neben der Weinberatung auch die Moderation zwischen den Gängen übernehmen. Die Bedienung war um eine dritte Person aufgestockt worden, ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, Janine. Und Marina, die Meisterköchin, würde kochen. Ein letztes Mal.
    Sie war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Seine drei Sterne hatte er ihr zu verdanken. Das musste er zugeben, in den Momenten, in denen er ehrlich zu sich war. Aber Marina ließ sich das auch honorieren.
    Nach der Renovierung hatte sie eine Gehaltserhöhung verlangt: Zehn Prozent. Genau die Prozentzahl, um die er seine Preise erhöht hatte. Es gebe noch andere gute Köche auf der Welt, hatte er ihr gesagt.
    Und er hatte auch schon einen ins Auge gefasst: den Sohn eines berühmten Vaters. Er stand Marina heute zur Seite. Zum ersten Mal. Markus Müller. Er machte zwar noch einen unsicheren Eindruck, aber er war mit einem Gehalt zufrieden, das zehn Prozent unter Marinas jetzigem lag.
    Marina und Zurheck hatten schon vor Wochen das letzte Menü zusammen besprochen. Zurheck hatte ihre Kreationen großzügig abgenickt. Er war auch damit einverstanden gewesen, als sie ihm sagte, dass sie ohne großes Brimborium danach gehen wollte. Keine Verabschiedungszeremonie. Das wäre ihr ein Gräuel. Ihr Zeugnis hatte sie schon vor einigen Tagen in Empfang genommen.
    Nach dem dritten Gang, wenn der Neue nur noch die Desserts an die Bedienung weiterreichen musste, wollte Marina gehen. Das würde so gegen 22 Uhr sein.
    »Wohin gehst du?«, hatte Zurheck sie gefragt. Es interessierte ihn natürlich, in welchem Restaurant sie demnächst kochen würde. Hoffentlich nicht in seiner Nähe.
    Aber Marina legte nur den Finger auf den Mund und antwortete leise: »Weit weg.«
    »Gut. Gut.« Mehr wollte Zurheck im Prinzip ja auch nicht wissen.
    Er war sogar ihrem Wunsch gefolgt und hatte sie einen Musiker aussuchen lassen, der die Gäste zwischen den Gängen unterhalten sollte. Eine Speisekarte sollte es nicht geben. Ein Überraschungsmenü.
    Der ganze Abend sollte eine einzige Überraschung werden, aber das konnte Zurheck um diese Uhrzeit, 17.30 Uhr, als er ein letztes Mal über die grünen Tischläufer strich, nicht ahnen. Und trotzdem seufzte

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