Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
hingen völlig in der Luft. In der Presse veranstalteten wir den üblichen Wirbel, um glaubhaft zu bleiben, und gaben kryptische Erklärungen ab. Dann gab uns der Täter ungewollt Hilfestellung. So ist es ja meistens, man muss den Hinweis nur sehen und verstehen. Aber wir waren blind und taub.
Es musste erst zum siebten Kidnapping kommen. Vier Tage vor Heilig Abend, morgens vor einem Schultor, wurde von einem fahrenden Auto aus ein Mädchen von der Straße gerissen. Niemand konnte im Gewühl den Täter und in der Dunkelheit des Dezembermorgens den Wagentyp oder gar das Nummernschild erkennen.
Außer einem kleinen Jungen, der uns später den Tatort zeigen konnte. Er behauptete, er habe gesehen, wie jemand die Autotür aufgerissen habe, um nach dem Mädchen zu greifen und es auf den Beifahrersitz zu zerren. Alles sei so schnell gegangen.
»War er groß, war er klein?
»Er hat gesessen.«
»Hatte er blonde oder braune Haare?«
»Es war dunkel.«
Als wir von ihm ließen, sagte er: »Ich hab nur gehört, wie das Radio ganz laut Musik gespielt hat.«
»Ja, ja«, sagte ich und strich ihm über die dunkelblaue, gestrickte Wollmütze. »Schon gut.« Einem meiner Inspektoren, irgend so einem ehrgeizigen Erbsenzähler, gab ich mit einem Kopfnicken zu verstehen, sich um den Kleinen zu kümmern, was nichts anderes bedeutete, als seine Eltern zu informieren, seine Aussage aufzunehmen und mit ihm Fotos bekannter Kidnapper durchzugehen.
Meine Frau, der ich wie stets von meinem Arbeitstag berichtete, fragte: »Was lief denn im Radio?«
»Wieso?«, fragte ich gereizt zurück. Was interessierte mich das? »Wahrscheinlich ein Weihnachtslied.«
»Welches Lied?«, beharrte sie.
»Keine Ahnung«, sagte ich genervt.
»Erkundige dich.«
»Jetzt?« Ich saß schon auf dem Sofa, hatte die Beine schon hoch, wollte mir gerade die zweite Bierflasche öffnen.
»Ja, jetzt.«
»Na gut, aber nur weil du es bist und wir bald Weihnachten haben.«
Ich rief im Dezernat an und tatsächlich der Erbsenzähler hatte es notiert.
»
Ihr Kinderlein kommet
«, sagte ich zu meiner Frau.
Sie nickte. »Siehst du.«
»Ich finde es auch höchst passend«, brummte ich wütend.
Wir sprachen nicht mehr viel an diesem Abend. Wir sahen fern, aber ich war mit meinen Gedanken überall. Wenn Sie mich fragen würden, was ich gesehen habe, ich könnte es Ihnen nicht sagen. Wenn mir das ein Verdächtiger sagt, glaube ich ihm nie. Na ja. So ist das.
Natürlich ließen wir den neuen Tatort nach der Entführung nicht mehr aus den Augen. Meine Kollegen und ich saßen in getarnten Fahrzeugen in beiden Fahrtrichtungen. Wir hätten sofort zuschlagen können. Aber wir konnten es nicht. Genau zwei Tage später, wieder kurz vor Unterrichtsbeginn, tippelte das Mädchen – aufgetaucht wie aus dem Nichts – an einem unserer Fahrzeuge vorbei. Beladen mit Geschenken. Niemand hatte gesehen, woher es gekommen war. Es konnte die Last kaum tragen und lächelte uns an, als wir ihm sagten, es müsse heute nicht in die Schule, wir würden es nach Hause fahren, so als habe sein Traum noch immer nicht aufgehört.
Es war alles unfassbar. Und blamabel zugleich. Selbst der Oberbürgermeister ließ uns das wissen. Die Presse verhöhnte uns und machte sich über uns lustig. Der Druck wurde so groß, dass wir ihm kaum noch Stand halten konnten.
Wir überwachten die ganze Stadt, alle öffentlichen und nicht-öffentlichen Gebäude, alle verfügbaren Polizisten waren auf den Beinen. Nur noch zwei Tage bis Heilig Abend. Es durfte jetzt einfach keine Entführung mehr passieren. Es war ein Horrortrip.
Wo wir auch Streife gingen, saßen oder standen, wurden wir von diesem süßlichen Brei aus Tönen berieselt, der wie eine wabernde, schwere Wolke über der gesamten Stadt lag, die aufgrund schwieriger Windverhältnisse nicht wegziehen wollte. Lautsprecher waren in allen Winkeln angebracht, sodass die verschiedenen Weihnachtslieder sich überschnitten und vermengten bis zur Unkenntlichkeit. Unsere Nerven lagen am Abend wirklich blank.
Als ich nach Hause kam, empfing mich aus dem Wohnzimmer Weihnachtsmusik. Nein! Alles in mir bäumte sich auf. Ich rannte zum Radio und würgte es ab. »Wenn ich noch ein einziges Weihnachtslied höre, laufe ich Amok«, schrie ich und hämmerte wie wild auf das Gerät ein.
Als ich mich umdrehte, stand meine Frau im Türrahmen. Sie hatte das Küchentuch fallen lassen und starrte mich an wie einen Geist – und da endlich begriff ich.
Es kostete uns von der
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