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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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eine unbestimmte Ferne starrte. Edward, der wie sein Bruder mit braunen Lederstiefeln, karierter Hose und Weste, Kaschmir-Schal und weißem Hemd gekleidet war, lag hingerafft auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Seine Schirmmütze lag wie eine Schildkröte auf dem Bauch in einiger Entfernung. Über seine linke Schläfe rann eine hellrote Blutspur auf die Wange hinab.
    Thomas blickte sich ängstlich um. Man war allein im weitläufigen Park, allein bis auf die schimpfenden Sperlinge und Eichhörnchen in den Bäumen, die bellenden Jagdhunde im Zwinger, den Jaguar auf dem Kiesweg vor den Garagen. Shrewsbury Castle hob sich dunkel gegen den Himmel ab. Nur im blauen Salon brannte ein Kronleuchter. Thomas sah auf die Uhr. Es war gleich fünf Uhr, Zeit für den Tee. Sophie, die uralte Amme, erwartete sie schon.
    Er legte zwei Finger auf Edwards Halsschlagader, ein Ohr an seinen Mund, eine Hand auf seinen Brustkorb. Nichts tat sich. Nirgendwo Leben. Angewidert und ohne hinzusehen zog er den Pfeil aus dem linken Auge, legte Edward den karierten Kaschmir-Schal über das Gesicht, umfasste seine Fußgelenke und zerrte ihn hinter den nächsten Busch, setzte ihm die Schirmmütze wieder auf, legte die Attrappe aus Stroh, Bögen und Pfeilen auf ihn, brach ein paar Eiben-Zweige ab, bedeckte alles damit, beseitigte zum Schluss die Schleifspuren im Gras und lief mit weiten Schritten zum Schloss.
    »Bist du das, Edward?«, rief Sophie mit zitternder Stimme, als Thomas den Salon betrat, der so groß war, dass man vom Teetisch aus nicht genau erkennen konnte, welcher der beiden Erben den Raum betrat. Edward war Sophies Liebling. Aufrecht, gradlinig, zielstrebig, Anwalt mit glänzenden Aussichten. Er war im Begriff, die abscheuliche Pamela Livingstone zu ehelichen, die eine ziemlich gute Partie war. Jetzt natürlich Schnee von gestern. Selbst wenn Edward wieder zum Leben erwachen würde, Pamela würde wohl kaum einen Einäugigen zum Manne nehmen können, das tat man in diesen Kreisen einfach nicht.
    Thomas dagegen war ein Träumer, Spinner und Spieler. Er wettete bei Hunde- und Pferderennen, er konnte einfach nicht die Finger davon lassen. Sein Lieblingstraum war es, eine Teeplantage in Indien zu erwerben, aber er hatte kein Glück und seine Apanage schon mehrfach überzogen. Schon sein seliger Vater, Lord William Ashfield, hatte geschworen, ihn nie wieder irgendwo auszulösen. Auch nicht aus dem Tower.
    Als Thomas nun hörte, wie Sophie ihn Edward rief, kam ihm das wie gerufen.
    »Ja, ich bin es, Sophie«, rief er etwas atemlos vor Anstrengung und Aufregung von der Tür aus und verbeugte sich tief dabei, so dass seine Stirn gegen die Knie schlug. »Ich will mich nur kurz frisch machen. Ich bin sofort zurück, wartet nicht auf mich!«
    Er lief hinauf in sein Zimmer, durchsuchte seine überfüllte Schreibtischschublade, bis er sie in den Händen hielt: die Hülle. Er zog das Gestell heraus, stellte sich in seinem Badezimmer vor den ovalen Spiegel. Perfekt. Augen sah man nun nicht mehr, ob blau ob braun, sie verschwanden hinter den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille. Natürlich besaß sein Bruder Edward die gleiche.
    Thomas wusch sich die Hände, fuhr sich durch die Haare und bekleckerte sich mit dem Herrenduft, den alle männlichen Mitglieder der Familie Ashfield seit Generationen zu benutzen pflegten.
    Mit einem »Da bin ich!« tauchte er wieder im Salon auf und ließ sich von Sophie den Tee servieren, der golden in das feine Wedgwood-Porzellan plätscherte. Es war der übliche
Darjeeling
.
    Und es war natürlich nicht irgendein
Darjeeling
, den die Ashfields seit Generationen zu schlürfen pflegten. Weder der
Darjeeling Autumnal
(der nach dem Monsunregen im Oktober/November geerntet wird) noch der
First Flush
(der im Februar/März nach der Winterpause an den Hängen des Himalaja gepflückt wird) kamen ihnen ins Schloss, sondern einzig und allein die Krönung: der
Second Flush
(aus der späten Mai/Juni-Ernte), der hoch-aromatische und exzellente Geschmackserlebnisse garantierte und den man sich direkt aus Indien liefern ließ.
    Thomas trank ihn ohne Milch, leider hatte Edward nicht die gleiche Angewohnheit. Gehabt. Angewidert musste Thomas nun zusehen, wie sich die Milch in fettigen Schlieren über seinen zarten
Darjeeling
hermachte. Fieberhaft ging er die anderen Vorlieben des niedergestreckten Bruders durch. Er hatte sich nie sonderlich für ihn interessiert. Edward war in seinen Augen nichts als ein bohrender

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