Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
Langweiler.
»Was ist mit deinen Augen, Edward?«, wollte Sophie wissen.
»Nichts, Sophie, nur eine Fliege ... sie erwischte mich im Park, als ich dort meinen Spaziergang machte.«
»Soll ich Doktor Little ...?«
»Aber nein, das wird nicht nötig sein. Erst wenn sie morgen noch da ist.«
»Gut. Nimm doch einen Ingwerkeks.«
Da war es. Thomas hasste Ingwerkekse, Edward liebte sie.
»Und wo ist dein Bruder Thomas wieder?«, fragte Sophie.
»Ausgegangen. Wir kennen ihn doch. Er wird die Zeit vergessen haben. Unser kleiner Tunichtgut!«
Edward war immer noch tot, als Thomas später im Park hinter dem Busch nach ihm sah. Gegen Mitternacht, im Schutz der Dunkelheit, zog er ihn durch den Hintereingang ins Schloss über die Marmortreppen hinauf in den ersten Stock und wälzte ihn in seinem eigenen Zimmer aufs Himmelbett. Sein Zimmer war im Gegensatz zu Edwards marineblauem Zimmer ganz in Jägergrün gehalten. Beide waren sie ansonsten identisch eingerichtet und lagen Tür an Tür im Ostflügel. Die hohen Sprossenfenster zeigten alle zum Park. Den Sonnenaufgang über den uralten Eichen und Nussbäumen hätten sie ohne Schwierigkeiten sehen können, wenn der Himmel in den West Midlands nicht so oft verhangen wäre.
Thomas weckte Sophie und bat sie, ihre berühmten Teekompressen für Thomas herzustellen, der endlich, aber mit brennenden Augen, von einer seiner Zechtouren heimgekehrt sei. In der Zwischenzeit sah Thomas sich gezwungen, auch das andere Auge zu entfernen. Angeekelt benutzte er dazu ein Rasiermesser, spülte das Auge in die Toilette und war gerade erst fertig, als es an die Tür klopfte.
Sophie hatte die aufgeweichten Blätter in zwei Leinensäckchen gefüllt und servierte sie auf einem Silbertablett, das Thomas bereits auf der Türschwelle entgegennahm. Verwundert vergaß sie zu erklären, was sie eigentlich erklären wollte.
Aber Thomas erkannte sogleich am Duft, dass sie nicht den üblichen
Darjeeling Second Flush
genommen hatte, sondern nur den einfachen
Earl Grey
, der für das Personal bestimmt war, und rümpfte die Nase. Aber Edward musste ihn nicht trinken. Für eine Kompresse musste es reichen.
Er entfernte den blutgetränkten Kaschmir-Schal, ließ auf jedes Auge seines Bruders ein Leinensäckchen fallen, verließ ihn postwendend und damit seine bisherige Identität. Von nun an war er Edward Ashfield, eigentlich Edward William Ethan George Ashfield, aber Edward genügte ihm vollauf. Edward Ashfield war er und niemand sonst.
Im Zimmer seines Bruders suchte er nach den Papieren, die ihm die Tore zur Welt öffnen sollten. Wenn die Teekompressen gelüftet wurden, sollten die Konten des toten Bruders geräumt sein, und er tunlichst schon unter falschem Namen im Flieger nach Indien sitzen. Er hatte also überhaupt keine Zeit zu verlieren.
Was Thomas nicht wusste, war, dass Sophie deswegen den billigen
Earl Grey
genommen hatte, weil ihr der
Darjeeling Second Flush
ausgegangen war. Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, sollte die neue Lieferung kommen. Das leichte Aroma des
Earl Grey
erinnert an Limone, stammt aber in Wirklichkeit vom ätherischen Öl der Bergamotte und war ursprünglich dazu gedacht, den Moder-, Fisch- und Teergestank zu überlagern, der während der langen Meeresüberfahrten von China nach England in die Säcke voller Teeblätter drang. Dieses ätherische Öl hätte sich für die ausgefransten Augenhöhlen des Edward Ashfield als durchaus heilsam erweisen können, vorausgesetzt er lebte noch.
Für den einfachen und preiswerten
Earl Grey
, wie er gerade gut genug für das Personal auf Shropshire Castle war, war der Duft und Geschmack natürlich nur durch ein künstliches Aroma hergestellt worden, das in seiner chemischen Zusammensetzung geradezu ätzendes Gift für offene Wunden war.
Das wusste wiederum Sophie nicht und Thomas erst recht nicht, da er in Chemie immer eine Niete gewesen war. Wenn er nicht ein so guter Sportler gewesen wäre, hätte er den Abschluss auf der University of Oxford nie und nimmer geschafft. Er hatte aber im Vierer-Ruderer seine Mannschaft zum Sieg geführt.
Edward hätte also, wenn er noch gelebt hätte, aufschreien müssen. Und das tat er auch. Aber erst vierundzwanzig Stunden später, als Thomas schon im Flieger nach Indien saß und der neue
Darjeeling Second Flush
aus Indien schon in der Vorratskammer von Shrewsbury Castle fachmännisch gelagert worden war.
Kaum kam Edward zu Bewusstsein, überfiel ihn ein stechender Schmerz zwischen Stirn
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