Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
stecken geblieben sein sollen. Etwas Wahrheit steckt in jedem Märchen.
Als sie den Weg verlässt, setzt sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und spürt ganz bewusst dem Untergrund nach, ehe sie den nächsten Schritt macht. Ameisenhaufen türmen sich über unsichtbaren Erdspalten. Der Boden ändert sich. Zuerst trocken und staubig, wird er zusehends feuchter, glitschiger, aber der Untergrund bietet noch Halt. Als auch dieser beginnt, unter ihren Füßen zu schwimmen, hält Mathilde inne. Keinen Schritt weiter sollte sie gehen.
Sie zieht das Käppi ab und wirft es mit flachem Schwung, wie eine Frisbee-Scheibe, in Richtung Moor. Es segelt davon, ein Windzug treibt es nach links, ein anderer nach rechts, es dreht sich ein paar Mal um sich selbst, ehe es landet und im Gras hängen bleibt und einen idealen Platz findet, um gesehen zu werden.
Alfreds Schuhe stellt sie akkurat nebeneinander mit den Spitzen in Richtung Käppi. Mathilde richtet sich auf, reibt sich die Hände und blickt umher.
Hinter ihr nähert sich eine kleine Läufergruppe in gemächlichem Trab. Mathilde duckt sich hinter einem Brombeerstrauch. Sie hört Stimmen, Lachen und dann einen Schrei.
»Seht mal da!«
»Der rote Fleck da!«
»Sieht aus wie eine Mütze!«
»Hoffentlich ist da nichts passiert.«
»Kommt, wir gehen nachsehen.«
Schritte nähern sich, das Stimmengemurmel wird lauter, trockenes Gras bricht, Zweige knicken, Vögel steigen schimpfend auf. Mathilde schiebt sich hinter einen dicht bewachsenen Zweig und sieht, wie die Läufer vor Alfreds Sportschuhen stehenbleiben.
»Das sind doch Alfreds Schuhe!«, ruft eine keuchende Frauenstimme.
»Sicher?«
»Ich kenne doch seine Schuhe. Außerdem, Größe 46 hat doch sonst keiner hier.«
Mathilde kann nichts sehen, sie kann nur hören. Und sie hört immer wieder diese eine Frauenstimme, wie sie nach Alfred ruft. Verzweifelt schreit sie seinen Namen. Das ist sie, denkt Mathilde, die Geliebte. Also, doch.
»Eigentlich«, erklärt eine andere Stimme, »konnte er im Moor nicht ertrinken und untergehen. Man kann höchstens darin stecken bleiben, nicht allein wieder herausfinden und dann durch den eiskalten Schlamm an Unterkühlung sterben. Das dauert ein paar Stunden. Dann müsste er noch irgendwo liegen.«
»Das kann man aber nur aus der Luft sehen.«
»Alfred!«
»Hör auf, Sandra!«
Sandra heißt die Geliebte also.
»Hat keiner ein Handy?«
»Doch, ich!«
»Ruf die Polizei!«
Nicht lange, und ein Suchkommando durchstreift das Gelände rund um das Moor, und ein Hubschrauber surrt in der Luft. Mathilde hätte der Polizei sagen können, dass ihre Arbeit vergebens ist. Stattdessen meldet sie Alfred noch am gleichen Abend als vermisst. Ein Kommissar überreicht ihr mit fragendem Blick die Sportschuhe und das Käppi. Letzteres hat ein besonders mutiger Polizist mittels eines langstieligen Keschers aus dem Moorweiher eingefangen.
Mathilde starrt entsetzt auf Alfreds Hinterlassenschaften. »Das ist alles, was mir von ihm geblieben ist?«
Nein, nein, man gehe davon aus, dass Alfred noch lebt. »Im Moor kann man nicht ertrinken, das weiß doch jeder.«
»Werden Sie ihn dann also anderswo suchen?«, fragt Mathilde unter Tränen.
Bedauernd schüttelt der Kommissar den Kopf. »Wenn Erwachsene verschwinden, haben sie vielleicht einen guten Grund.«
»Was soll das heißen?«, entfährt es Mathilde.
Der Kommissar zuckt mit den Schultern und versucht, sie zu trösten. »Er wird schon wiederkommen. Die meisten kommen irgendwann wieder.«
Mathilde mustert ihn misstrauisch und denkt, dass er nicht weiß, was er da sagt.
Oft geht sie seit diesem Tag zum
Mürmes
, weniger um Alfreds zu gedenken, als vielmehr mit einer gewissen Genugtuung Sandra, die Geliebte, zu beobachten, wie sie ganz in Schwarz, vom Tüllschleier über dem Gesicht bis zu dem schwarzen Rock, der bis zu den Füßen reicht, zu jeder Tagesund Nachtzeit durchs Moor streift und leise wimmernd seinen Namen ruft. Man nennt sie die »Schwarze Frau«.
Eines Tages scheint auch sie aufgegeben zu haben, denn Mathilde sieht sie nicht mehr. Sie ist verschwunden, spurlos, mysteriös, so wie Alfred damals. Man könne sich gar einen Zusammenhang vorstellen, steht im
Trierischen Volksfreund
. Obwohl oder vielleicht auch, weil sie viel jünger als Alfred war und sie eine gemeinsame Leidenschaft hatten: das Laufen.
Im September, sechs Monate nach Alfreds Tod – Mathilde bezieht fleißig seine Rente, und das Lehmstampfbecken in der
Weitere Kostenlose Bücher