Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
will ich gar nicht denken, das ist wohl das Grausamste, was man sich für ein Kind vorstellen kann.
Wer also in dieser Zeit die Dreistigkeit besitzt, ein Kind zu entführen, ist ein besonders schäbiges und verachtenswertes Individuum. Da sind wir uns wohl alle einig. Die Weihnachtszeit ist eben eine ganz besonders emotionale Zeit. Da macht man so etwas nicht. Erst recht nicht. Dieser Tatsache kann sich wohl kaum jemand entziehen. Es sei denn, man wandert nach Papua Neuguinea aus.
Dass es sich bei dem Täter jedes Mal um ein und dieselbe Person handelte, war uns ziemlich schnell klar, da er immer nach dem gleichen Schema vorging. Immer, fragen Sie? Ja, es war in den drei vergangenen Adventswochen zu jeweils zwei Entführungen gekommen. Das bedeutet sage und schreibe sechs Entführungen. Gott sei Dank waren es so genannte leichte Entführungen, denn jedes Mal tauchten die Kinder genau zwei Tage später, pünktlich zur gleichen Stunde wieder auf. Sie waren in keiner Weise zu Schaden gekommen, wie die zu Rate gezogenen Kinderärzte feststellten, sondern kehrten überhäuft mit Geschenken, übermüdet aber überhaupt nicht unglücklich zurück. Als wären sie aus einem wunderbaren Traum erwacht, lag ein seliges Lächeln auf ihren Gesichtern, die erröteten Wangen strahlten förmlich.
Bei den Geschenken handelte es sich um wahr gewordene Herzenswünsche. Wünsche, die die Eltern nicht erfüllen konnten oder wollten. So bekam ein Mädchen endlich den kleinen Hund, den es schon immer haben wollte, ein Junge den Computer der neuesten Generation, ein anderer das 26-gängige Mountainbike …
Zwar brachte dieses Verhalten dem Täter in der Öffentlichkeit einige Sympathiepunkte ein, aber er blieb natürlich weiterhin ein Unmensch, denn er hatte die Kinder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erpresst, zu schweigen. Aber worüber?
Die Kinder gehorchten ihm auf besonders hartnäckige Weise. Verständlich, sie wollten ihre Geschenke nicht wieder verlieren. Mit keiner Silbe wurden wir etwas über den Verlauf des unfreiwilligen Treffens gewahr, noch über den Täter selbst. Auch die Eltern oder besten Freunde gingen leer aus. Die Herkunft der Geschenke konnte nicht zurückverfolgt werden. Verräterische Nummern aus Chargen, Verkaufsfilialen oder gar Preisetiketten waren sorgfältig entfernt oder zumindest unkenntlich gemacht worden.
Die Kinder verstanden die ganze Aufregung nicht. Sie spielten verzückt mit ihren vorgezogenen Weihnachtsgeschenken und sahen dem Heiligen Abend nun mit großer Gelassenheit entgegen, viel schöner konnte es nicht mehr werden. Die Eltern schienen fast eifersüchtig zu sein auf den großzügigen Täter. Es entwickelte sich eine Art Rivalität. Anstatt dem Täter auf Knien zu danken, dass er ihren Kindern nichts angetan hatte, gaben sie keine Ruhe.
Auch wir im Dezernat beließen es natürlich nicht dabei. Wir bildeten eine Sonderkommission, nannten sie »Herzenswunsch«, ich wurde der Leiter und klärte zunächst Folgendes ab: Auch wenn wir hier immer von einem Täter sprachen, konnte natürlich genauso gut eine Täterin in Betracht kommen, wenn nicht sogar noch viel eher, da in der Weihnachtszeit besonders Frauen emotional stark betroffen sind. Kindheitserinnerungen, überzogene Erwartungen in der Familie und die ermüdenden Vorbereitungen für das Fest aller Feste machen ihnen das Leben schwer.
Auf diese Variante hatte mich eigentlich meine eigene Frau gebracht, mit der ich am Abend – frustriert von der erfolglosen Fahndung – über diese Fälle sprach. Sie klagte selbst seit Jahren über die schreckliche Weihnachtszeit, vor der es kein Entrinnen gab.
Wie auch immer, gehen wir ruhig von einer Frau aus. Geld schien nicht das Problem der Täterin zu sein. Auch Zeit schien sie im Überfluss zu haben, da die Entführungen mal morgens, mal mittags und mal abends stattgefunden hatten. Die Tatorte wiesen keine Übereinstimmungen auf.
Mal geschah es in einem überfüllten Kaufhaus in der Fußgängerzone, dass ein Kind von der Hand der Mutter verschwand, mal auf dem Weihnachtsmarkt. Mal von einem Spielplatz aus, mal im Zoo mitten im Regenwaldhaus.
Es handelte sich jeweils um Kinder im Alter von sechs bis sieben, Jungen und Mädchen. Die Kinder waren nicht miteinander verwandt und kannten sich nicht. Sie waren weder arm noch reich, ihre Auswahl schien rein zufälliger Natur. Sie besuchten unterschiedliche Grundschulen.
Nicht viel, um tätig zu werden. Eigentlich gar nichts. Unter uns, wir
Weitere Kostenlose Bücher