Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
und Nase. Er riss die inzwischen angetrockneten, leicht klebenden Teesäckchen hoch und schleuderte sie mit einem Aufschrei von sich. Er bäumte sich auf, stolperte zu einem der Sprossenfenster, zog den schweren Samtvorhang auf, weil er nichts sah. Aber danach sah er immer noch nichts, natürlich auch nicht, dass er im jagdgrünen Zimmer seines Bruders Thomas lag. Sonst hätte er sich gefragt, warum. Er tastete sich ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Und obwohl es gut war, dass er nicht sehen konnte, wie er aussah, schrie er: »Hilfe!« und ließ sich wieder auf das Bett fallen.
Sophie stürzte herein. »Thomas!«, stieß sie hervor, als sie das zerstörte Gesicht sah. Ihr einfaches Gemüt sagte ihr, dass nur sie und dieser billige
Earl Grey
daran die Schuld trugen. Sie ließ die blutigen Teesäckchen in ihrer Schürzentasche verschwinden, ehe sie am Bett niedersank und nochmals aufschrie: »Thomas!«
Da erst begriff Edward, dass er in Thomas‘ Zimmer liegen musste. »Hol den Arzt!«, brüllte er außer sich. »Schnell! Schnell!«
»Sofort, Thomas!« Sophie stürzte davon.
Doktor Horace Little erschrak fast zu Tode bei seinem Anblick, beschrieb ihm aber wunschgemäß sein Äußeres und verarztete seine Wunden.
Je öfter Edward hörte, wie man ihn Thomas rief, je klarer wurde ihm, dass sich ihm hier die einmalige Gelegenheit bot, in die Rolle des leichtsinnigen, rücksichtslosen und verwöhnten Bruders zu schlüpfen. Eine Rolle, die ihm insgeheim immer ebenso widerwärtig wie reizvoll vorgekommen war. Auf jeden Fall aber beneidenswert.
Deswegen ließ er Doktor Little, Sophie und sogar die abscheuliche Pamela in dem Glauben, Thomas zu sein, sprach vage von einem Duell im Morgengrauen mit einem Kameraden und davon, dass der gute, brave Edward bei seinem Anblick in Panik das Weite gesucht habe. Er ahnte, dass es nicht für lange sein würde. Und er behielt recht.
Der wahre Thomas erwarb derweil in Nordindien gerade einen Anteil an einer Teeplantage mit dem Namen
Bhanh Bhakta
. Sie lag in zweitausend Meter Höhe an einem Südhang des Himalaja-Gebirges unweit der Stadt Darjeeling.
Aber er ging wie immer nicht den geraden Weg, sondern versuchte bald durch illegalen Verschnitt und Umgehung der offiziellen Stellen die Produktion auf die Schnelle zu erhöhen. Er verkaufte schwarz, wenn er nicht sogar unterschlug. Als man ihm auf die Schliche kam, jagte man ihn davon. Völlig verarmt kaufte er sich von seinen letzten englischen Pfund dunkelbraune Kontaktlinsen und kehrte reumütig heim nach Shropshire und Shrewsbury Castle.
Edward saß mit einer Sonnenbrille in einem Korbstuhl auf der Veranda und genoss die letzten warmen Strahlen der Herbstsonne auf der Haut, als er eine Stimme hörte.
»Edward!«
Nach all der Zeit, in der er nun schon Thomas gerufen wurde, zuckte er vor Schreck zusammen. Seit er blind war, hörte er besser, aber nun traute er seinen Ohren nicht.
»Edward!«, zischte die Stimme erneut.
»Thomas?«
Die Brüder einigten sich schnell: Es sollte bleiben, wie es gekommen war, bestimmte Edward. Er hatte sich an seine neue Rolle gewöhnt und hatte nicht vor, sie wieder aufzugeben.
Während er als Thomas blind und träge im Korbsessel saß, musste Thomas als Edward in die Fußstapfen seines Bruders treten, den Anwalt spielen, die abscheuliche Pamela heiraten und wohl bis ans Ende seines Lebens Tee mit Milch trinken und Ingwerkekse essen.
Das konnte aber jeden Tag vorbei sein, denn Edward bestand darauf, wie früher jeden Tag seine geliebten Pfeilspiele zu machen. Thomas musste die Stroh-Attrappe halten und ihn dirigieren, wenn er den Bogen spannte. Thomas überstand diese perfide Prozedur nur deswegen ohne psychischen Schaden, weil er dabei die Augen schloss und fest an den Traum seines Lebens dachte: Die Teeplantage
Bhanh Bhakta
am Südhang des Himalaya, die für einige Wochen seine gewesen war. Er hatte den Duft noch in der Nase und die Gesänge der Pflücker noch im Ohr.
Wein, Weib und Gesang
Wein! Wie Oswald ihn liebt! Wie Oswald ihn braucht!
Wein macht einen anderen Menschen aus ihm.
Der etwas mürrische, verschlossene, schüchterne Mann, der Oswald aufgrund einer lieblosen Kindheit, einer unglücklichen Pubertät, einiger unerwiderter Liebschaften und einer gescheiterten Ehe ist, blüht auf und verwandelt sich in einen forschen, charmanten, überaus geistvollen und wortgewitzten Oswald. Je nach Tagesform braucht er nicht mehr als eine Flasche. Je härter sein Tag war, desto weniger
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