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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Wein ist vonnöten, um die Metamorphose in Gang zu bringen.
    Vorausgesetzt es ist der richtige Wein.
    Weißwein wirkt überhaupt nicht, hat Oswald nach einigen Selbstversuchen feststellen müssen, egal woher er kommt. Auch Rosé geht gar nicht. Diese »Ich weiß nicht, was bin ich«-Mischung aus Rot und Weiß, nehmen nicht einmal die Winzer ernst. Nein, es muss ein roter Wein sein. Und zwar ein Deutscher. Italiener, Franzosen, Portugiesen oder Spanier haben eine umgekehrte und damit verheerende Wirkung bei ihm. Sie machen ihn depressiv. Nach ein paar Gläsern kann er sich selbst nicht mehr leiden, Weltschmerz überfällt ihn, und er heult Rotz und Wasser, egal wo er sich gerade befindet. Wie oft hat ein aufmerksamer Tisch-Nachbar ihm schon im letzten Augenblick das spitze Steakmesser aus der Hand gerissen, als er versuchte, es sich in die Brust zu rammen, oder ein Zimmer-Nachbar ihn von einem Hotelbalkon gezerrt, als er schon halb über dem Geländer hing.
    Nein, ein solider deutscher Rotwein gehört in die Flasche. Beim Jahrgang, den Rebsorten und dem Anbaugebiet lässt er sich gern immer wieder überraschen und gibt jedem Winzer eine Chance.
    Zu Oswalds großem Bedauern sind nur etwa ein Drittel aller deutschen Weine rot. Aber das wird sich bald ändern. Es tut sich was in den deutschen Weinbergen und -kellern. Denn Rotwein ist Medizin! Er unterscheidet sich von allen anderen Alkoholika durch eine ganze spezifische Ingredienz.
    Das Zauberwort heißt Flavanoide!
    Ein Wort, das Oswald kaum aussprechen kann, wenn er ein paar Gläser Wein intus hat, und noch viel weniger, wenn er nüchtern ist.
    Fla-va-no-ide – lassen Sie sich das Wort Silbe für Silbe einmal auf der Zunge zergehen. Klingt es nicht vielversprechend? Klingt es nicht nach ewigem Leben?
    Zurecht, denn diese Flavanoide sind der reine Jungbrunnen: Gefäßschützer, Antioxidantien, Cholesterinsenker und Radikalenfänger und … und … und. Theoretisch könnte man Flavanoide auch mittels Traubensaft, schwarzem Tee oder Schwarzer Schokolade zu sich nehmen. Aber Rotwein, darin sind wir uns ja wohl alle einig, schmeckt nun einmal besser als alles andere zusammen.
    Oswald behauptet jedenfalls mit Fug und Recht von sich, ohne Flavanoide nicht mehr leben zu wollen. Kein Wunder! Sind sie es doch, die aus dem verklemmten Buchhalter einen singenden Helden machen – es ist nicht der Alkohol, auch wenn andere das behaupten, denn nur bei Rotwein wächst er über sich hinaus. Und nur in Rotwein sind diese Flavanoide. Da liegt die logische Schlussfolgerung doch auf der Hand! Und logisch denken kann der Oswald! Im Übrigen ist er doch selbst der lebende Beweis für die letzten Zweifler.
    Seine Metamorphose verläuft immer nach folgendem Schema: Kaum hat er genügend Flavanoide intus, spricht er die nächstbeste Frau an und wundert sich, dass sie ihm auch antwortet. Nach kurzem Wortgeplänkel wird er zudringlich. Kurz darauf setzt eine kleine Erinnerungslücke ein, in welcher die Frau seltsamerweise ums Leben kommt und er zu singen beginnt wie ein junger Gott. Kaum zu fassen, weil er eigentlich kein Mörder und überhaupt nicht musikalisch veranlagt ist. Er ist Buchhalter mit Leib und Seele. Seine Welt ist die Welt der Fakten und Zahlen.
    Wein, Weib und Gesang. Um diese Dinge macht Oswald einen großen Bogen, seitdem er von der Metamorphose weiß. So ganz geheuer ist sie ihm nicht. Vor allem nicht die Erinnerungslücke. Erst drei Mal hat er sein Talent zum Ausbruch kommen lassen.
    Beim ersten Mal war Oswald am Freitag nach der Arbeit von seiner Heimatstadt Trier nach Mayschoß an die Ahr gefahren, um in einer Weinstube den neuen Wein des Jahres zu probieren. Und da er sich bei Weinverkostungen grundsätzlich weigert, das gute Zeugs wieder auszuspucken, wie es die Professionellen machen, und er insofern einen harten Tag hatte, als ihm eine Kündigung wegen Unterschlagung drohte, ging die Metamorphose sehr schnell vonstatten.
    Unterschlagung! Welch großes Wort für ein kleinen Fehler. Hat sich der Herr Richter noch nie vertippt? Das kann doch mal passieren … Wo gehobelt wird, da fallen Zahlen, oder?
    Oswald war jedenfalls schon auf 180, bevor er den Wein bestellte. Der Wein war gut, und bereits der erste Schluck wirkte. Die Frau, die schon die ganze Zeit neben ihm gesessen hatte, war plötzlich nicht mehr unattraktiv. Er begann mit ihr zu schäkern, er flirtete, sie tanzten. Sie hieß Mathilde!
    Ihr Nachbar zur Linken und Oswald brachten Mathilde im Morgengrauen nach

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