Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
sich allmählich der Druck in meinem Kopf. Offenbar sind noch zwei weitere Kursteilnehmer für den Garten eingeteilt worden, ein jüngerer Typ mit schweren Akneschäden im Gesicht und ein Endvierziger, der selbst in seiner Freizeitkleidung elegant rüberkommt und somit eindeutig zu den Anzugträgern von gestern gehört. Wir warten schweigend wie drei Fremde an einer Bushaltestelle. Um zehn nach eins kommt endlich eine junge blonde Frau angelaufen, die sich als »die Silvia vom Hausteam« vorstellt und uns zeigt, wo wir Rechen, Schubkarren und Arbeitshandschuhe finden und wohin wir das Laub bringen sollen. »Das wird dann später alles abgeholt«, sagt Die Silvia, und wir nicken stumm. Jede Wette, dass der Haufen bis zum Frühjahr liegen bleibt. Ich bekomme das Rasenstück am Gartenteich als Arbeitsplatz zugewiesen, und schon nach wenigen Minuten muss ich meine Jacke ausziehen, so warm ist es.
Mit jeder Bewegung wird mir leichter ums Herz. Das monotone Vor- und Zurückschwingen meines Rechens, das Rascheln der Blätter, der modrige Geruch, der von ihrer Unterseite aufsteigt – alles nimmt mir ein Stück von meiner Schwere. Nach einer halben Stunde bin ich dem meditativen Landleben verfallen und überlege mir, ob ich irgendwo ein Kloster kaufen oder lieber hier einziehen möchte. Meine Stadtfräuleinhände haben trotz der Arbeitshandschuhe Blasen bekommen, aber ich ignoriere das Brennen, belade Schubkarre um Schubkarre mit Laub und muss mir sogar verkneifen, ein kleines Lied vor mich hin zu summen, auch wenn es diesmal ein schönes gewesen wäre.
Ich kehre mit leichtem Widerstreben in den Meditationsraum zurück. Es ist ein bisschen wie früher in der Schule nach der großen Pause, wenn draußen die Freiheit lockt und drinnen schon wieder die Disziplin wartet, diesmal in Form zweier langer Sitzungen mit einer halbstündigen Teepause dazwischen. Die erste Doppelrunde bringe ich noch mit Anstand hinter mich. Meine neue Sitztechnik hat sich bewährt, meine Gespenster haben sich wieder zurückgezogen, und das schlimmste feststellbare Gefühl ist vage Langeweile. Aber meine Krisen folgen dem Gesetz der zweiten Halbzeit. Kaum habe ich mich nach der Teepause wieder hingesetzt und die Augen geschlossen, bricht meine Unzufriedenheit sich Bahn: Und, war’s das jetzt? Ein kleiner Aufstieg, ein großer Absturz, und die restliche Zeit bis morgen Nachmittag kriegen wir auch noch irgendwie rum? Ich versuche, meine aufkommenden Zweifel klein zu atmen, aber ich ahne schon, dass es nicht funktionieren wird. Klein atmen, so ein Scheiß. Was mache ich hier eigentlich? Ich bin keine Meditiererin. Ich bin eine Hirnfickerin, deren Geist niemals Ruhe gibt, man kann mich neun Jahre in eine Höhle setzen, und ich werde ohne eine einzige armselige Erkenntnis wieder herauskommen. Ich habe es ja gleich gesagt: In mir ist keine Stille, sondern ein einziger Haufen Müll, und den schweigend zu betrachten, halte ich für pure Zeitverschwendung. Ich bin nicht gut, ich bin böse, ich esse Tiere und denke schlecht von meinen Mitmenschen. Ich kann das nicht. Ich will hier raus. Jetzt. Sofort.
Zwei geschlagene Stunden hadere ich mit mir selbst und schleppe mich bei der Gehmeditation widerwillig vorwärts wie eine Gefangene beim Hofgang. Beim Abendessen fasse ich einen Entschluss: Wenn dieses Elend noch den ganzen Abend weitergeht, werde ich morgen früh auf die Meditation pfeifen, meine Sachen packen und mir den letzten Tag schenken, statt ihn brav abzusitzen. Im Gegenzug will ich mich bemühen, ohne Vorbehalte an der heutigen Abendsitzung teilzunehmen und mich auf alles einzulassen, was mich dort erwartet. Auf alles? Ja, auf alles. Ein fairer Deal, finde ich, und meine Stimmung bessert sich schlagartig. Obwohl die Zeit knapp ist, gehe ich noch einmal nach draußen und stelle mich in der kalten Abendluft unter einen fast vollen Mond, der von einem perlmuttfarbenen Hof umgeben ist. Irgendwo in der Ferne kreischt ein Tier. Aus dem geöffneten Küchenfenster dringen Tellerklappern und Gesprächsfetzen. Ich bin kein bisschen im Reinen mit mir.
Mit den Worten »Heute Abend singen wir das Mantra der Grünen Tara« eröffnet Gerald unsere abendliche Runde. Die Grüne Tara, höre ich, ist ein weiblicher Buddha aus dem tibetischen Buddhismus, sie verkörpert Mitgefühl, kann Weisheit vermehren und schützt vor den acht Arten der Angst. Welche das sind, sagt Gerald nicht, aber ich kenne mindestens zehn mehr als Tara. Außerdem sei Tara besonders schnell im
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