Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Ende abzusehen ist. Vielleicht ist das eine spirituelle Variante des Stockholm-Syndroms, bei dem das Opfer eine innige Beziehung zu seinem Geiselnehmer entwickelt. Jetzt, wo ich weiß, dass es bald vorbei ist, möchte ich mich gern noch länger dieser Stille ausliefern, selbst wenn es wehtut.
Ich bleibe bei meiner Praxis vom frühen Morgen, und die Fokussierung auf meinen Körper bringt diesmal keine Schmerzen, sondern eigenartige Nebeneffekte hervor. Als würde ein irrer Pilot vor dem Start einen Funktions-Check durchführen, bei dem jederzeit an jeder beliebigen Stelle im Körper ein Signallämpchen aufleuchten könnte, flattert als Erstes mein rechter Nasenflügel beim Einatmen wie ein panisches Insekt. Dann beginnen meine Hände heiß zu werden und zu kribbeln, gut, damit kann man leben, genauso wie mit dem unbändigen Drang, meinen Mund ganz weit aufzureißen, aber dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel: oha, Sex. Rittlings auf meinem Meditationskissen sitzend ist das vielleicht gar nicht so weit hergeholt, aber in einer Umgebung wie dieser hätte ich nicht damit gerechnet. Und jetzt? Gleichmut, entscheide ich weise, Gleichmut gegenüber allem Flattern und Kribbeln, wo auch immer es stattfinden mag. Gleichmut gegenüber dem Impuls, mich für meine ungehörigen Gefühle zu tadeln. Ha! Gleichmut gegenüber dem Triumph, inmitten dieser sublimen Stille eine kleine sexuelle Revolution angezettelt zu haben.
Mein Dauerflirt mit dem Gleichmut begleitet mich bis zum Ende der Sitzung. Die Lust ist längst vergangen, nichts ist geblieben, bis auf den Satz ›Gleichmut macht unschuldig‹, der irgendwann aus dem Nichts in meinem Kopf aufgetaucht ist und den ich für ein späteres Überprüfen auf seinen Wahrheitsgehalt in meinem Erinnerungsarchiv ablege.
In der Mittagspause drückt mir Die Silvia an unserem Treffpunkt eine große Tüte mit Krokuszwiebeln und einen Spaten in die Hand, während die zwei Männer wieder zum Laubharken geschickt werden. Etwa zehn Zentimeter tief soll ich die Zwiebeln überall im Rasen um den kleinen Teich herum einpflanzen, am besten in kleinen Grüppchen. »Und schön das Gras obendrüber festklopfen!«, ruft Die Silvia mir hinterher. Außer einem toten Wellensittich habe ich noch nie etwas in der Erde vergraben, und das ist auch schon dreißig Jahre her, aber ich finde, dass ich meine Sache gut und effizient erledige. Erst nach einer halben Stunde kommen mir Zweifel, ob die Triebe von Zwiebeln, die kopfüber in einem Loch stecken, rechtzeitig zum Frühjahr ihren Weg an die Oberfläche finden werden. Also beginne ich, die armen Dinger wieder auszubuddeln und akkurat mit der Spitze nach oben einzusetzen. Als ich mit meiner Arbeit fertig bin, wirkt die gesamte Rasenfläche etwas angegriffen, aber nur, wenn man ganz genau hinschaut. Der Buddha am Teich sieht nicht mehr mürrisch, sondern wohlwollend aus, weil er weiß, dass er im nächsten März auf einem Krokusblütenkissen sitzen wird. Ebenso wohlwollend beobachtet mich einer meiner zwei schweigenden Gärtnerkollegen, der lässig an einen Baum gelehnt schon seit einer Weile mein Treiben verfolgt. Es ist der große, dunkle Anzugmann, nicht der mit der Akne. Ich klopfe mir den Dreck von der Hose und gehe duschen.
In unserer letzten Sitzung am Nachmittag kommt mir meine frisch erworbene Disziplin wieder komplett abhanden. Zu präsent ist das Wissen, dass alles gleich vorbei ist, zu stark die Neugier, ob mein Leben »danach« wohl ein anderes sein wird. Ich weiß, dass ich zu extremem Überschwang neige, aber in mir ist Kindergeburtstag, und ich will raus und meine neuen Geschenke ausprobieren. Gleichmut beim Autofahren, heitere Gelassenheit beim Betreten meiner kalten, leeren Wohnung. Ich werde mir ein Meditationskissen kaufen. Ich werde von jetzt an jeden Morgen meditieren. Um sieben. Nein, um acht. Schon plane ich meine nächsten Wochenendseminare, ach was, es gibt auch mehrtägige Schweigekurse, habe ich gehört, das könnte genau das Richtige für mich sein. Auf jeden Fall werde ich morgen Irene einen Strauß Blumen zu unserer Therapiestunde mitbringen. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, den ironischen Blick, nanu, Mila, drei Tage sitzen, und schon ein Durchbruch? Vielleicht wird ja eines Tages doch noch ein glücklicher Mensch aus mir.
Ein letztes Mal lausche ich dem Klang der Bronzeschale hinterher, bis er sich im Raum verliert. Alle schauen jetzt zu Gerald, und der lässt sich Zeit, wandert mit seinem Blick von einem zum anderen in unserer
Weitere Kostenlose Bücher