Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Erfüllen von Wünschen, auch weltlichen, vorausgesetzt, sie dienen unserem Weg zur Erleuchtung.
»Das Mantra der Tara lautet Om Tare Tuttare Ture Soha «, sagt Gerald. » Om steht für Taras erwachten Körper, Tare bedeutet die Befreiung vom Leiden, Tuttare die Befreiung von den acht Ängsten, Ture die Befreiung von Krankheiten, und Soha heißt sinngemäß: Möge ich diese drei Arten von Befreiung erlangen.«
Als die Musik einsetzt, meine ich die Stimme des Mannes von gestern wiederzuerkennen und auch die indische Ziehharmonika, die ihn begleitet. Langsam, ganz langsam rezitiert er die Silben zu einer Melodie, die melancholisch klingt und gleichzeitig voller Hoffnung ist. Und ja, diesmal will ich dabei sein. » Om Tare Tuttare Ture Soha «, singe ich ihm nach, man muss dieses Soha ein bisschen wie Swaaha aussprechen, Grüne Tara, hörst du mich? Ich bin’s, Mila, und ich wünsche mir, dass dieser Krieg in mir endlich aufhört, ich wünsche mir Liebe, deshalb singe ich dein Mantra. Jetzt hör dir das an, Tara, ich heule schon wieder, und dann treffe ich die Töne nicht richtig. Egal, Tara, om Tare , befrei mich vom Leiden und von meinen achtzehn Ängsten, und wenn du das mit der Liebe auch noch hinkriegst, wäre das großartig. Ich meine, wenn du schon mal dabei bist. Soha, Soha .
Das Lied ist vorbei, das Schweigen hat uns längst wieder eingehüllt, doch die Silben kreisen weiter wie ein Kinderkarussell in meinem Kopf, Om ist ein Nilpferd, Tare ein Drachen, Tuttare ein kleines Polizeiauto und Ture ein weißes Pferdchen, das eine Prinzessinnenkutsche mit dem Namen Soha zieht. Die Stunde vergeht so schnell, dass ich verwirrt hochschrecke, als ich Geralds Klangschale höre und das leise Geraschel einsetzt, mit dem sich die anderen eine bequemere Zuhörposition suchen. Diesmal bleibe ich einfach dort sitzen, wo ich bin.
»In der Meditation nehmen wir den ständigen Wechsel und die Vergänglichkeit in unserem Innern wahr. Angenehme und unangenehme Gefühle, Bilder, Gedanken, Stimmungen kommen und gehen. Ist irgendetwas unverändert geblieben im Lauf des heutigen Tages?«
Bingo, Gerald.
»Wenn wir Wandel und Vergänglichkeit beobachten, dann erkennen wir auch, dass die Dinge nicht festgehalten werden können und dass ein Haften und Festklammern an dem, was vergänglich ist, Leid und Konflikt bringt. Statt festzuhalten, was wir nicht festhalten können, üben wir uns in der inneren Haltung des Loslassens, des Annehmens und der Liebe.«
Wäre da bloß nicht die Tatsache, dass ich den Schwarzen Gürtel im Festhalten, Rumzicken und Hassen trage.
»Wir alle möchten glücklich sein und nicht leiden. Deshalb versuchen wir in jedem Moment, Angenehmes zu erlangen und Unangenehmes zu vermeiden. Wir wollen angenehme Körpererfahrungen und keinen Schmerz, gute Gefühle und kein Leid, positive Gedanken und keine negativen. Das ist völlig normal. Leider ist es auch die Ursache für unsere größten Probleme im Leben: für Kummer, Sorgen, Ängste, Konflikte, Bedrückung, Einsamkeit, Wut und Hass, Sehnsucht, Trauer, Verwirrung, Aufruhr und Qual. Durch sie entsteht enormes inneres Leiden.«
Ich verstehe.
»Buddha lehrte, dass es möglich ist, sich vollständig von jeder Art des inneren Leidens zu befreien. Gleichmut, inneres Gleichgewicht, liebevolle Gelassenheit – das ist die Haltung, die uns Frieden ermöglicht. Wörtlich bedeutet Gleichmut ›unparteiisches Wahrnehmen‹. Es ist das Wahrnehmen eines Objekts oder einer Erfahrung mit ausgeglichenem Herzen und Geist. Gleichmut lädt uns dazu ein, allen Situationen und Erfahrungen des Lebens mit der gleichen Art von Mut zu begegnen.«
Ich verstehe nicht.
»Das ist Meditation. Sie ist eine Schulung der inneren Gelassenheit und des Gleichmuts: gegenüber der schmerzenden Schulter und dem eingeschlafenen Bein, gegenüber den Kapriolen des Geistes, lästigen Gedanken oder unangenehmen Gefühlen. Und wenn die Meditationserfahrung dann endlich ruhig und angenehm wird, ist auch das eine Gelegenheit, Gleichmut zu üben, und kein Anlass, das Gefühl festhalten oder verlängern zu wollen.«
Erwischt.
»Wann immer Angst oder Freude, Einsamkeit oder Verbundenheit im Herzen entstehen: Es ist eine Gelegenheit, Gleichmut zu üben, Loslassen zu üben. Alles vergeht, nichts bleibt. Ich wünsche Ihnen eine friedliche Nacht.«
Ich bleibe sitzen, während die anderen aufstehen, ihre Decken zusammenlegen und nacheinander den Raum verlassen. Ein paar Minuten lang ist es ganz still, dann
Weitere Kostenlose Bücher