Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Runde, verweilt einen Moment bei jedem Gesicht, nickt und lächelt, als wären wir die heimgekehrten Helden einer Wüstenexpedition.
»Wer in unserer letzten gemeinsamen Stunde etwas von seinen Erfahrungen berichten mag, ist herzlich willkommen. Wer mir eine Frage stellen möchte, ebenfalls«, sagt er dann.
Zunächst passiert gar nichts. Ich habe ein ähnliches Gefühl wie früher bei einem neuen Schulheft, wenn das erste Wort auf der unberührten ersten Seite ein besonders schön geschriebenes sein sollte. Ich will nicht, dass mir als Erstes irgendeine Belanglosigkeit über die Lippen kommt. Den anderen geht es offenbar ähnlich. Schließlich ist es die Abiturientin mit dem Augenbrauenpiercing, die mit einem Stoßseufzer das Eis und das Schweigen bricht.
»Ich glaube, wenn ich vorher gewusst hätte, wie weh Sitzen tun kann, hätte ich mich nie für diesen Kurs angemeldet.«
Alle lachen, räuspern sich, rücken sich auf ihren Kissen zurecht.
»Ist das nicht auch gefährlich? Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich meinem Körper nicht schade, wenn ich die ganze Zeit diesen Schmerz ignoriere. Eigentlich ist er doch ein Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
Gerald schüttelt lächelnd den Kopf. »Mir ist kein Fall bekannt, in dem sich ein gesunder Mensch durch Meditation körperlichen Schaden zugefügt hätte, und schon gar nicht ein so junger Mensch wie Sie. Im Gegenteil, Ihr Körper wird mit der Zeit sogar noch elastischer und beweglicher. Und in dem Maß, wie Sie lernen, ihn mit Gleichmut zu betrachten, wird der Schmerz vergehen.«
Einer der Waldorflehrer meldet sich zu Wort. »Ich mache diesen Kurs jetzt zum dritten Mal. Diese Stille und das Schweigen, das ist ganz wunderbar. Das tut mir so gut.« Er macht eine Pause. Sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass jetzt die schlechte Nachricht kommt. »Aber mit dem Meditieren komme ich einfach nicht voran. Das lange Sitzen fällt mir von Mal zu Mal schwerer. Und das Schlimmste sind die Gedanken. Egal, wie ich mich anstrenge, sie hören einfach nicht auf, mich zu plagen. Irgendwas mache ich falsch, oder?«
»Sie machen gar nichts falsch«, sagt Gerald. »Sie müssen nur aufhören, sich anzustrengen. Nehmen Sie sich beim nächsten Mal ruhig einen Stuhl zum Sitzen. Es geht nicht darum, etwas zu erreichen. Meditation ist Hingabe – ohne Ziel, ohne Erwartung. Wer mit der Absicht in die Meditation hineingeht, ein Problem zu lösen, eine Antwort oder die Erleuchtung zu finden oder einfach nur ein besserer Meditierer zu werden, wird mit großer Sicherheit enttäuscht werden. Die einzige Absicht in der Meditation liegt in der Bereitschaft, alles geschehen lassen und dabei wach und präsent zu sein.«
»Das klingt so einfach«, sagt der Mann und sieht immer noch unglücklich aus.
»Aber wie macht man das?«, platze ich heraus, und schon habe ich einen fetten Tintenklecks auf mein schönes weißes Blatt gesetzt. »Wie macht man das, etwas nicht wollen zu wollen? Ich meine, ich bin doch genau deswegen hier, weil ich etwas Bestimmtes suche: inneren Frieden, Gelassenheit, Entspannung. Ich kann doch nicht so tun, als wäre ich rein zufällig in diesem Raum gelandet und hätte keinerlei Absichten.«
Gerald nickt zustimmend, als fände er meinen Einwurf völlig berechtigt. »Keiner von uns wäre hier, wenn er nicht die Absicht dazu gehabt hätte. Aber die Meditation selbst ist ein absichtsfreier Raum. Hier entsteht unsere innere Freiheit. Absichtslosigkeit bedeutet, die Kontrolle aufzugeben, auf Erfolge oder Ergebnisse zu verzichten. Nichts zu wollen kann man nicht wollen. Man kann das Wollen nur sein lassen.«
»Ich habe auch eine Frage.« Die Stimme gehört meinem Gärtnerkollegen, der mir vorhin so interessiert bei der Arbeit zugesehen hat. »Es geht um den Gleichmut. Es war eine großartige Übung, all die Gefühle und Gedanken und Bilder während der Meditation aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass diese Haltung alltagstauglich ist.«
»Gleichmut bedeutet nicht Distanz«, antwortet Gerald. »Bitte verwechseln Sie Gleichmut auch nicht mit Gleichgültigkeit oder Teilnahmslosigkeit. Gleichmut bedeutet, allen Dingen gleichermaßen nah zu sein, auf eine liebevolle, sensible Art und Weise. Gleichmut entsteht aus dem tiefen, mitfühlenden Wissen, dass alle Empfindungen und alle Zustände, ob positiv oder negativ, kommen und wieder vergehen.«
»Dann möchte ich es noch einmal anders formulieren.« Der Mann beugt sich
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