Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Couchtisch stellt und eine Kerze anzündet, nehme ich die Noten vom Ständer in die Hand, als würde mir das etwas sagen, ein Klavierquintett von Johannes Brahms, aha, und oben auf den Umschlag hat jemand mit Schwung Michael Kasper 2/81 hingeschrieben.
»Die Noten sind von meinem Mann«, sagt Pujari, die mich im Auge behalten hat. »Wir haben zusammen studiert.«
»Was ist mit deinem Mann?«, frage ich.
»Mit dem Motorrad verunglückt«, sagt sie. »Ist aber schon sehr lange her. Nach seinem Tod bin ich zum ersten Mal nach Indien gefahren. Das war 1987. Möchtest du Wein?«
Wir nehmen Platz. Das Sofa des heutigen Abends ist ein Zweisitzer, mit verschlissenem blauen Leinstoff bezogen und mit Abstand das bequemste Modell der gesamten Woche. Ich sitze am einen Ende, Pujari am anderen, und in perfekter Symmetrie kauern wir dort mit angezogenen Beinen, jede hält ihr Glas Wein in der Hand und hat den freien Arm auf der Rückenlehne abgelegt. Wir prosten uns zu und beteuern uns gegenseitig, wie toll wir es finden, diesen Abend miteinander zu verbringen. Mir fällt auf, dass wir aussehen wie ein lebendiger Rorschachtest. Ich sage es ihr. Sie muss sehr lachen. Dann fange ich endlich an mit meiner elend langen Geschichte, und Pujari hört zu. Sie hat die Augen geschlossen und unterbricht mich kein einziges Mal. Ich erzähle von der Grünen Tara, die Wünsche erfüllt, von aufbrechenden Herzen, roten Kleidern und tollkühnen Versprechen, vom Nicht-Wissen und einem kleinen Wir, das irgendwo nutzlos im All herumirrt, von Liebe und von Liebe und von Liebe. Ich erzähle von abstürzenden Drachen und lauter Nachnamen, die mit W beginnen und nirgendwohin führen, und von meiner Reise von Sofa zu Sofa, die mich dann doch irgendwohin geführt hat, nämlich zu ihr. Pujaris Haare auf der Armlehne erinnern mich an alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen der gefrorenen Niagarafälle. Weil sie nichts sagt und ihre Augen geschlossen bleiben, erzähle ich noch ein bisschen weiter, erzähle von Beziehungen, die gelebt werden wollen, und von Entschlossenheit, die Berge versetzt, aber ich beginne meine Stimme blöd zu finden und die Worte, die ich wähle, auch, und irgendwann kommt der Punkt, an dem ich überzeugt bin, meine letzte und einzige Chance vermasselt zu haben. Ich hätte eine andere Geschichte erzählen sollen, eine, in der keine Abmachungen vorkommen, sondern Telefonnummern zufällig verloren gehen, oder wenn mit Abmachungen, dann aus dem Mund einer unglücklich Verliebten, deren Periode ausgeblieben ist. Alles wäre besser gewesen, als die ganze Wahrheit vor Pujari auszubreiten und am Ende noch pathetisch zu werden. Ich bin so peinlich.
»Aber Wagner war doch völlig richtig«, sagt Pujari, ohne die Augen zu öffnen.
»Wagner war richtig?«
»Menschenskinder, Mila.«
»Ja, ich weiß. Du findest das bescheuert, was ich hier mache.«
»Was?«, sagt Pujari und setzt sich aufrecht hin. »Überhaupt nicht. Wie könnte ich? Das ist eine wunderbare Geschichte. Simon ist wieder am Leben! Ich hätte ihm nie zugetraut, dass er mal so was riskieren würde. Und ich finde dich sehr mutig. Warum siehst du mich so schockiert an?«
»Ich war mir sicher, dass du mich inkonsequent nennen würdest oder fixiert. Und mir sagst, dass ich loslassen soll.«
»Ich nenn dich erst mal verliebt«, sagt Pujari mit Bestimmtheit. »Außerdem lässt doch kein Mensch los, bloß weil man es ihm sagt. Entweder tust du es freiwillig, oder das Leben haut dir irgendwann mächtig auf die Finger. Oder es lenkt dich ab und stellt dir eine neue Aufgabe, für die du zwei freie Hände brauchst. So einfach ist das.«
Ich bin dermaßen dankbar für Pujaris undogmatische Haltung, dass ich leichtsinnig werde und eine der Fragen stelle, die zu stellen ich mir auf der Herfahrt verboten habe: Tabu sind Fragen zu Simon und mir, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können, Bitten um persönliche Stellungnahmen und Fragen nach Kinderfotos von ihm. Meine Weisheit beim Autofahren ist unendlich groß. Ich sitze nicht in meinem Auto.
»Heißt das, du hältst es für eine gute Idee, wenn ich mich bei Simon melde?«
»Es heißt, dass ich sehr gut verstehen kann, was dich umtreibt, Mila.«
Alles klar, Pujari: keine Verurteilung, aber auch keine Absolution. Ich trinke den letzten Schluck Wein aus meinem Glas und schenke uns nach. Wer einmal gegen die eigenen Regeln verstößt, kann es ruhig ein zweites Mal tun. Wenigstens ist es keine Ja-Nein-Frage. Und wer könnte es mir sagen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher