Die Einheit: Thriller (Tokio Killer) (German Edition)
erledigt hätte, wäre es Horton nicht schwergefallen, seine Reisedaten zu ermitteln. Dass er es nicht konnte, deutete auf ein gewisses Sicherheitsbewusstsein bei Finch hin, und auch darauf, dass Hortons Nachforschungsmöglichkeiten beschränkt waren, wenn er Finch nicht alarmieren wollte. Egal wie, das Fazit lautete, dass wir unser Hauptaugenmerk auf die Schwester richten mussten. Wenn wir sie orteten, hatten wir auch Finch. Und danach mussten wir improvisieren.
Emma Capps, verwitwet, aber weiter den Namen ihres Mannes tragend, war relativ leicht zu beschatten. Als Ausgangspunkt verfügten wir, dank Steuerunterlagen, über ihre Wohnadresse und die ihres Arbeitsplatzes. Außerdem besaßen wir reichlich Fotos, gesammelt auf der Website der Universität, Capps’ Facebook-Seite und ihrer eigenen Website, wo sie über neue Trends in der Welt der Kunst bloggte und eigene Bilder verkaufte – beachtliche Ölgemälde, erkennbar realistisch, aber gleichzeitig von einer unirdischen, schmelzenden Leuchtkraft. Leider kannte sich keiner von uns besonders gut in Wien aus, wir hatten keine Ahnung von Capps’ Gewohnheiten und es blieben uns nur vier Tage Zeit, bis Finch in der Stadt auftauchte.
Aber ein Vier-Mann-Team, das in der Anonymität eines großstädtischen Umfelds operiert, kann normalerweise die tägliche Routine eines Zivilisten innerhalb von wenigen Tagen durchleuchten und so erging es auch Capps. Ihre Wohnung lag im vierten Stock eines Hauses im heruntergekommenen 15. Distrikt, in der Nähe des zentralen Westbahnhofs. Morgens Yoga in der Bikram Yogaschule ein paar Ecken weiter. Dann Frühstück im
Café Westend
, ebenfalls in der Nachbarschaft. Nachmittags die Universität, wo sie, wie wir vermuteten, angesichts des Fehlens von Studenten während der Semesterferien eher malte als lehrte. Sie war eine attraktive Frau um die fünfzig mit lockigen braunen Haaren, aufrechter Haltung und zielstrebigem Schritt – in jedemSinn des Wortes angenehm zu beobachten. Sie schien allein zu leben. Ich fragte mich, wie alt sie beim Tod ihres Ehemanns gewesen war und ob sie vielleicht Kinder hatte. Wenn ja, waren sie vermutlich erwachsen und schon lange aus dem Haus. Solche Details fehlten in Hortons Akte, entweder, weil sie unvollständig war oder er wusste, dass nur ein Soziopath sich bei einer Operation übermäßig vertraut mit der menschlichen Seite der Zielperson machen will, selbst peripher. Tatsächlich spürte ich, während wir Capps beschatteten und ihren Alltag ausforschten, die Hoffnung aufkeimen, dass sie irgendwo Kinder hatte oder einen Liebhaber, einfach irgendjemand außer dem Bruder, den wir ihr nehmen würden.
Am vierten Tag der Beschattung, dem Tag, an dem wir Finch erwarteten, hielt sie sich länger als üblich in der Universität auf. Wir hatten sie vom Morgen an observiert, erst in ihrem Viertel und jetzt wechselten wir uns ab, die Universität zu umkreisen. Erst beunruhigte es mich, als sie nicht wie immer gegen fünf auftauchte. Ich hatte erwartet, sie würde Finch am Flughafen abholen oder zumindest am Westbahnhof. Kam er möglicherweise mit einem Nachtflug? Hatte er den Besuch gestrichen oder war Hortons Annahme, er würde nach Wien reisen, von Anfang an falsch gewesen? Aber dann begriff ich, dass es noch eine andere Möglichkeit gab – Finch besuchte seine Schwester hier ja seit vielen Jahren und kannte sich womöglich so gut aus, dass er keine Begleitung brauchte. Vielleicht war die Abweichung von der Routine also sogar ein gutes Zeichen.
Das bewahrheitete sich. Capps verließ die Universität kurz vor sechs. Es waren reichlich Spaziergänger unterwegs, um die Sonne des Spätnachmittags zu genießen, dazu jede Menge Radfahrer, Motorroller und Autos. Es war also kein Problem, ihr unbemerkt zu folgen. Ich beschattete sie aus diskreter Entfernung und sah sie das
Café Prückel
betreten, ein klassisches Wiener Kaffeehaus in einem schönen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Eswar typisch für die Gegend – und aus einem glücklichen Zufall heraus, wie er bei einer Operation gelegentlich vorkommt, machte Dox dort gerade Pause. Ich rief ihn auf dem Handy an.
»Unser Mädchen kommt dich besuchen«, sagte ich, als er abhob. »Hast du …«
»Schon gesehen, Amigo. Ich sitze an einem der Straßentische und lasse mir einen Espresso mit Apfelstrudel und Obers schmecken.«
»Mit was?«
»Obers. Das ist Schlagsahne.«
»Nein, Obers ist Sahne. Ungeschlagen.«
»Hm? Ach, egal, du weißt ja, andere Länder,
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