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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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Augenblick danach entsann er sich des Kolibribunten, der mit seinem Wägelchen durch das öde Gebirge gezogen war; des Buntgekleideten, der ihm und seinem Weib den kostbaren Odem gebracht hatte – und diese Erinnerung löste jetzt urplötzlich tiefe Erschütterung in dem Grauhaarigen aus. Denn auf einmal wußte er wieder, warum er die einschichtige Hofstätte in den Steinbergen verlassen hatte und hinunter zur Donauebene gewandert war: Um seiner Frau den Sauerstoff zu holen und ihr dadurch für vierzig Ehejahre zu danken, in denen sie geduldig all das Leid mit ihm geteilt hatte.
    Neuerlich sah der Alte das verhärmte, abgezehrte Antlitz seines Weibes vor sich; es war ihm, als würde ihr Mund eine Bitte flüstern – und da schluchzte der Grauhaarige im gelbgrünen Narrenkittel auf und stieß hervor: „Ich will heim!“
    Der Glotzäugige, auf dessen Schoß der Alte immer noch saß, reagierte nicht; er war damit beschäftigt, seinen Pokal nachzufüllen. Doch als der Grauhaarige nun aufsprang und laut rief: „Ich möchte zu meiner Frau zurück!“, da wurde der andere aufmerksam und erwiderte unwirsch: „Was soll das, du Blödkopf? Halt’s Maul – oder besser: Führ uns noch eins deiner Narrenstücke auf!“
    „Nein!“ weigerte sich der Alte. „Ich will heim!“
    Zornig holte der Glotzäugige zu einer Ohrfeige aus; der Grauhaarige aber wich behende beiseite und schrie, jetzt ebenfalls wütend: „Ich werde zurück ins Gebirge gehen! Ihr könnt es mir nicht verbieten! Und ich werde den Odem für mein Weib mitnehmen! Eine Flasche voll Atem! Die müßt ihr mir schenken, weil ich für euch gegaukelt habe! Und wenn ihr sie mir gegeben habt, werde ich gehen!“
    „Kusch!“ brüllte der Glotzäugige; unmittelbar darauf erscholl es von verschiedenen Seiten: „Du bleibst hier!“ – „Du hast für uns zu tanzen und Possen zu reißen!“ – „Du tust, was wir dir befehlen!“ – „Du parierst, denn wir sind die Herrscher, und du bist der Narr!“
    Ein Bratenstück flog heran und traf die Brust des Alten; ein Glaspokal verfehlte seinen Kopf nur knapp und zerschellte hinter ihm an einer Tischkante. Der Grauhaarige duckte sich und ballte die Fäuste, als wollte er sich den Machthabern, allen zusammen, zum Kampf stellen – doch in der nächsten Sekunde spürte er den Klammergriff des Glotzäugigen, der sich auf ihn gestürzt hatte, um seinen Nacken.
    In verzweifeltem Ringen entwand sich der Alte dem würgenden Griff, sprang ein paar Schritte zurück und schrie außer sich: „Ich gehe! Und nehme den Odem mit!“
    Mit diesen Worten machte er Anstalten, zu dem Nebenraum zu rennen, wo die Sauerstoffbehälter lagerten – aber er kam nur wenige Meter weit, denn dann fiel eine ganze Horde der Stadtherrscher, sowohl Männer als auch Frauen, über ihn her. Brutal prügelten sie auf ihn ein, Schleuderten ihn zwischen sich hin und her; traten ihn, nachdem er niedergestürzt war, mit Füßen und ließen erst von ihm ab, als er, von Schmerzen und Panik überwältigt, die Besinnung verlor.
    Irgendwann wich die Ohnmacht von dem Grauhaarigen; es geschah, weil seine Feinde ihn mit Kopfnüssen traktierten und ihm gleich darauf gewaltsam den Mund öffneten, um ihm Schnaps in den Schlund zu schütten. Als er den scharfen Alkohol schmeckte, spie er ihn angeekelt von sich; doch dann preßte ihm einer die Nase zu, so daß er durch den aufgerissenen Mund atmen mußte – und so wurde er gezwungen, den Schnaps zu schlucken. Seine Peiniger gossen ihm Alkohol in den Rachen, bis seine Augäpfel glasig wurden und er nahe daran war, sich zu erbrechen; erst dann gaben sie ihn frei, und einer der Machthaber brüllte ihn an: „Steh auf, Narr! Tu deine Pflicht und mach ein Tänzchen!“
    Ein Fußtritt traf sein Gesäß und jagte ihn hoch; taumelnd kam er auf die Beine, und in seiner Angst vor den entfesselten Männern und Frauen begann er tatsächlich wieder so etwas wie Tanzschritte auszuführen. Unbeholfen, noch halb benommen, torkelte er mit bleischweren Füßen und qualvoll pochendem Schädel herum; allmählich aber fing der Schnaps, der ihm eingeflößt worden war, zu wirken an, und infolgedessen fielen ihm die Bewegungen leichter.
    Langsam dämpften sich auch seine Kopfschmerzen ab, und bald kapriolte er erneut unter verrückten Verrenkungen durch den Saal. Die Stadtherrscher, die sich nun ihrerseits immer exzessiver dem Trunk hingaben, zeigten sich zufrieden mit ihm; gelegentlich rief man ihm jetzt sogar wieder einen derben, aufmunternd

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