Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
Vom Netzwerk:
närrischen Darbietungen aber hatte mit dem Sauerstoff zu tun. Wann immer der Alte dazu aufgefordert wurde, sein verrücktestes Gaukelstück aufzuführen, schlich er geduckt dorthin, wo die stählernen Kartuschen eingelagert waren, blieb auf halbem Weg stehen und faltete in unterwürfiger Körperhaltung die Hände. „Schenkt mir den Atem, ihr Cherubim und Seraphim!“ flehte er sodann in weinerlichem Gebetston. „Schenkt mir den Atem Gottes – ich bitte aufs inständigste darum!“
    Nachdem er dies herausgewinselt hatte, schlug er rasch hintereinander Dutzende von Kreuzzeichen vor seiner Brust und lauerte dabei auf den erlösenden Wink von einer der Tafeln her. Kam dieser endlich, so stürzte er unter begeistertem Kreischen zu dem Nebengemach, in welchem die Sauerstoffbehälter lagen. Dort riß er sich das Narrengewand vom Leib, drapierte es um diejenige der Metallkartuschen, die ihm am leichtesten zugänglich war, fiel vor dem grellfarbig verhüllten Stahlbehälter auf die Knie nieder, breitete mit priesterlicher Gebärde die Arme aus und schrie: „Ich bete den Gottesgeist an – meinen Körper und meine Seele bringe ich dem Allerhöchsten dar!“
    Danach zog er eine Atemmaske mit schweinsrüsselförmigem Nasen- und Mundstück, die er von den Stadtherrschern bekommen hatte, aus seiner Unterkleidung hervor, stülpte sie sich über das Gesicht und verband den Schlauch, der aus dem Rüssel wuchs, mit dem Düsenstück der stählernen Druckflasche. Dann öffnete er das Ventil und sog den Sauerstoff wie ein Süchtiger in sich hinein. Er pumpte sich mit der berauschenden Atemluft voll, bis sein Gesicht purpurrot glühte, seine Glieder unkontrolliert zu zucken begannen und er überschäumende Lebenslust verspürte – und sobald er sich in diesen euphorischen Rauschzustand versetzt hatte, wurde er zum König der Narren.
    Unter lautstarken Gottesbeschwörungen und ekstatischen Verbeugungen schloß er das Kartuschenventil wieder, riß sich die Maske ab und fing in der Art eines außer Rand und Band geratenen Derwisches zu tanzen an. Gleich einem Irrwisch wirbelte er durch den Saal; sprang und kobolzte mit hageren Beinen und arthritischen Gelenken wie ein Jüngling. Er gefiel sich darin, verfettete Weiber von ihren Sesseln hochzuzerren und sie im wilden Polkarhythmus herumzuschwenken; wenn er samt seiner johlenden Partnerin in Erbrochenem oder einer Alkoholpfütze ausglitt, so daß sie beide zu Boden stürzten, war er blitzschnell wieder auf den Beinen und raste mit ebenso verrückten Kapriolen und Drehungen wie zuvor weiter – und zuletzt dann erntete er den frenetischen, nicht enden wollenden Applaus der Machthaber, die sich während seines wahnwitzigen Auftritts vor Lachen über ihn ausgeschüttet hatten.
    So ging es von Woche zu Woche und in manchen Wochen beinahe täglich – und eines Abends, der Alte weilte nun schon an die zwei Monate in der Donaustadt, zog ihn der Glotzäugige, welcher ihn in den Kreis der Herrscher eingeführt hatte, am Ende einer der irrsinnigen Darbietungen auf seinen Schoß und versprach ihm, vor Vergnügen prustend: „Du sollst unser Hofnarr bleiben… bis du den Löffel abgibst!“
    „Und wir wollen dir so viel vom Geist deines Gottes zukommen lassen, daß er dir aus den Ohren herauspfeift!“ plärrte eine der schmerbäuchigen Frauen.
    „Den Gottesatem darfst du in dich hineinfahren lassen, bis du platzt!“ kreischte eine zweite Übergewichtige; gleich darauf brüllten verschiedene Männer im Chor: „Hoch soll er leben, der Narr! Ein Weib soll er finden! Kinder soll er kriegen! Helau, helau!“
    Der Alte, der in seiner trunkenen Euphorie eben noch über das ganze Gesicht gestrahlt hatte, zuckte zusammen. Der kurze Satz vom Weib, das er finden sollte, schien schmetternd in seinem Gehirn widerzuhallen – und im nächsten Moment glaubte er Bilder aus den toten Steinbergen vor sich zu sehen.
    Er vermeinte, das Einödanwesen im ausgetrockneten Flußtal des Schwarzen Regen zu erblicken; es war ihm, als sähe er seine ausgezehrte Frau, wie sie in einiger Entfernung vom Hof auf der geborstenen Erde kniete und mühsam nach abgestorbenen Baumwurzeln grub. Einen Herzschlag später hatte er das Gefühl, rissiges Schweinsleder in seinen Händen zu spüren, und er erinnerte sich an das jahrhundertealte Büchlein, das von seinen Vorfahren auf ihn gekommen war: das Buch, in welchem seine Ahnen von Generation zu Generation alles niedergelegt hatten, was ihnen bedeutsam erschienen war. Wiederum einen

Weitere Kostenlose Bücher