Die einsamen Toten
basieren auf den traditionellen Moriskentänzen im Grenzland. Das ist eine alte Arbeitertradition. Immerhin auch eine Möglichkeit, im Winter zu Geld zu kommen. Sonst hätten die Familien hungern müssen. Da Betteln verboten war, schwärzten die Tänzer ihre Gesichter, um nicht erkannt zu werden. Aber in Withens hat sich diese Tradition in eine ganz spezielle Richtung entwickelt, so wie es bei echten Traditionen immer der Fall ist. Sie werden nicht künstlich konserviert,
sondern entwickeln sich auf natürliche Weise weiter und nehmen die Bedeutung an, die die Leute ihnen zuschreiben.«
»Man hat mir erzählt, der Tanz würde das Töten der Ratten in den alten Eisenbahntunneln symbolisieren, wo die Straßenarbeiter geschuftet haben.«
»Das mag durchaus so sein«, antwortete Alton. »Heute kann das keiner mehr mit Gewissheit sagen. All das wird von einer Generation zur nächsten weitergegeben und verändert sich ständig, da ja nichts Schriftliches vorliegt. Jedes Jahr verändert sich der Tanz ein bisschen mehr. Das hängt von den Beteiligten ab.«
»Wie kommt es, dass Sie so viel über diese Traditionen wissen, Sir?«
»Ich bin selbst Moriskentänzer, muss ich gestehen«, sagte Alton. »In meiner vorhergehenden Pfarrei war ich bei den Cotswold-Tänzern.«
»Die mit den Schellen und Tüchern?«
»Ja.«
»Hat das auch einen heidnischen Ursprung?«
»Heidnisch oder nicht, jeder Tanz hat seine eigene Bedeutung, seine spirituelle Dimension. Natürlich sind Rituale wichtig. Sich zu verkleiden, einen speziellenTag dafür zu bestimmen, die Wörter und die Bewegungen zu lernen, das gehört alles zu dem Ritual. Der Platz für die Aufführung hat sogar einen eigenen Namen. ›Temenos‹ heißt er im Griechischen. Doch den Tanz allein als Ritual zu sehen, genügt nicht. Wenn es zu einer spirituellen Vereinigung kommen soll, muss man sich dem ganz hingeben und seinen ganzen Glauben investieren.«
Cooper bemerkte, dass die Border Rats auf größeres Interesse gestoßen waren als Jesus.
»Aber mir scheint der beteiligte Personenkreis hier sehr klein zu sein. Eigentlich nur Mitglieder der Familie Oxley.«
»Das stimmt nicht ganz«, widersprach Alton. »Einige Mitglieder der Border Rats kommen auch aus Hey Bridge. Die
beiden Gruppen sprechen zwar außerhalb der Proben kaum miteinander, aber wenn sie auftreten, sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Es hat noch nie einen Mangel an Freiwilligen gegeben. Lucas Oxley hat eine Regel aufgestellt, die besagt, dass diejenigen bevorzugt werden, die Withens am nächsten wohnen. Aber solange ein Kandidat gewillt ist, als Mitglied der Border Rats alles zu geben, sieht Lucas das nicht so eng. Nur, werden die Border Rats nicht ernst genommen, ist alles aus.«
»Vielen Dank«, sagte Cooper. »Das war sehr interessant.«
»Und hat Ihnen mit Sicherheit nicht viel gebracht.«
»Nun …«
»Man darf nicht vergessen, dass der Moriskentanz eigentlich noch gar nicht so alt ist. Er hat auch keine mystische Bedeutung, sondern nur die, die der jeweilige Tänzer in ihn hineinlegt. Aber er hat sich aus unserer Kultur und Geschichte he raus entwickelt, über Generationen unserer Ahnen hinweg. Aus dem Grund ist er so wichtig.«
Ben Cooper blickte auf seine Uhr, als er und Tracy Udall zurück auf die A628 in Richtung Longdendale bogen. Mittlerweile gab es mehrere Spuren, die er anzubieten hatte. Aber während sie an den Stauseen entlangfuhren, war Udall in Gedanken noch immer bei der Cholera.
»Wissen Sie, dass es hier zur Zeit des Ausbruchs der Cholera einen berüchtigten Mordfall gab?«, fragte sie. »Der Fall wäre sogar für die Polizei von Derbyshire eine harte Nuss zum Knacken gewesen. Das heißt, wenn es sie damals schon gegeben hätte.«
»Was war das für ein Fall?«
»Der Woodhead-Tunnel-Mord. Nie davon gehört?«
»Nein.«
»Das war 1849.«
»Na dann. Die Polizeieinheit wurde erst 1857 gegründet. Außerdem gehörte Longdendale bis 1974 zu Cheshire. Mag
sein, dass ein einfacher Polizist darauf angesetzt war, aber in einem Mordfall hätte der Friedensrichter ermittelt. Wo ist das passiert?«
»In der Barackensiedlung der Bahnarbeiter. Die Hütten waren damals schon verrufen genug, und dann noch die Cholera. Eines der größten Probleme, mit dem sich die Arbeiter herumschlagen mussten, war das Vertragssystem, in das sie eingebunden waren – ein kompliziertes Geflecht aus Subverträgen, den so genannten ›Unterverträgen‹. Auf jeder Hierarchieebene sahnte ein
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