Die einsamen Toten
Tür.
»Wie ist es denn für Sie, Tür an Tür mit so vielen Oxleys zu leben?«, fragte Cooper munter und blieb auf der Türschwelle stehen. Schweigen legte sich über sie. Melvyn hörte zu lächeln auf. Wendy lief rot an und verschwand ohne ein weiteres Wort Richtung Küche.
»Wendy war eine Oxley, bevor wir heirateten«, erklärte Melvyn.
»Aha.«
»Sie ist es immer noch, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen«, fügte er hinzu.
»Immer noch? Meinen Sie …«
»Nein, nein, wir sind schon richtig verheiratet. Nicht so wie manche andere, die ich nennen könnte. Wir haben es gemacht, wie es sich gehört. Mit Kirche und Pfarrer und allem Drum und Dran. Wir hatten einen Empfang im Quiet Sheperd mit Blätterteigwürstchen und Käsehäppchen. Wir hatten auch einen Fotografen und sind in die Flitterwochen gefahren. An die Algarve.«
»Tatsächlich.«
»Daran zahlen wir heute noch ab.«
»Dann …?«
»Wendy ist dem Gesetz nach also eine Tagg, aber inwendig noch immer eine Oxley. Mit Leib und Seele, wenn Sie mich fragen. Eine Familie wie die Oxleys verlässt man nicht. Da muss man schon sterben.«
»Sie stehen einander wohl sehr nahe, vermute ich. Nicht viele Familien würden freiwillig so nahe beieinander wohnen.«
»Das können Sie laut sagen. Ich persönlich konnte es ja kaum erwarten, von mir zu Hause wegzukommen. Meine Familie ist auch nur zur Hochzeit gekommen, weil sie wissen wollten, ob das stimmt, was alle über die Oxleys sagen.«
»Aber Sie haben sich angepasst, Sir, wie?«
»Ja, habe ich«, sagte Melvyn. »Durch meine Hochzeit mit Wendy bin ich in ihren Augen ein Oxley geworden. Ich bin jetzt einer von der Familie. Nicht, dass Sie da was missverstehen.«
»Vielen Dank«, sagte Cooper. »Ich würde ungern an einem Nachmittag gleich zweimal etwas missverstehen.«
Ben Cooper stand vor der Waterloo Terrace und blickte zur Straße hinauf. Melvyn Tagg hatte Recht – man sah wirklich nicht viel von hier. Die Waterloo Terrace war von drei Seiten durch einen dichten Bewuchs an Bergahorn und Kastanienbäumen vollkommen jeglicher Sicht beraubt. Sogar nach der Einfahrt verlief der Weg in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel auf die Straße zu, so dass man von den Häusern aus wirklich nichts sehen konnte. Auf jeden Fall nicht vom Erdgeschoss aus. Und wahrscheinlich auch nicht von den oberen Stockwerken.
Cooper wandte sich wieder den Häusern zu. Als Nächstes war Nummer fünf an der Reihe, dessen Backsteinfassade sich durch nichts von den anderen Häusern unterschied, das heißt, bis auf die Tür und die Fensterrahmen, die blau gestrichen waren. Außerdem stand am Ende der seitlichen Dachrinne ein
Plastikfass, in dem sich das Regenwasser sammelte. An der Hausmauer wucherten Brennnesseln, deren oberste Blätter bereits das Fensterbrett erreicht hatten.
Aber die Bewohnerin der Waterloo Terrace Nummer fünf, Frances Oxley, war nicht zu Hause. Jedenfalls ging sie nicht an die Tür, was auf dasselbe herauskam.
»Ich glaube, Mr Alton hat sie erwähnt«, sagte Ben Cooper. »Das muss Fran sein, Lucas Oxleys Tochter.«
»Das ist sie«, antwortete PC Udall.
Sie blieben auf der Treppe stehen und warteten eine Weile. Cooper läutete erneut. Irgendetwas an dem Haus gab ihm das Gefühl, es müsse jemand drin sein und hinter den Vorhängen oder im dunklen Flur lauern. Cooper trat etwas näher an die Haustür und lauschte auf Schritte im Hausflur. Udall tat es ihm nach, machte ein paar Schritte zur Seite und spähte unauffällig durch die Vorhänge des vorderen Fensters. Sie schüttelte den Kopf.
»Niemand zu sehen.«
»Reverend Alton deutete an, dass es einen Mann in Fran Oxleys Leben gebe, schien aber dessen Status nicht genau zu kennen.«
»Vielleicht ist er viel unterwegs«, meinte Udall.
Cooper ging ein paar Schritte zurück zum Gartentor und betrachtete die Fassade. Die Vorhänge im oberen Stock waren zugezogen, und es stieg kein Rauch aus dem Kamin, wie es bei Nummer sechs und sieben der Fall war. Fran Oxleys Haus wurde entweder mit Gas oder elektrisch beheizt. Nicht so wie bei Mrs Wallwin, die festen Brennstoff bevorzugte.
»Meinen Sie mit ›unterwegs‹, dass er arbeitet oder dass er einsitzt?«, fragte Cooper.
»Eigentlich meinte ich damit, dass er arbeitet. Aber wer weiß?«
»Ist Withens an die öffentliche Gasversorgung angeschlossen?«
»Das bezweifle ich. Die größeren Häuser haben alle ihre Propangasflaschen.«
»Richtig – die habe ich gesehen.Vermutlich ist das Dorf doch zu
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