Die einsamen Toten
Kinder offensichtlich keine Option war. Er selbst mochte Kinder und hoffte, es einrichten zu können, eine Zeit lang als Hausmann zu fungieren, wenn es einmal so weit war. Er betrachtete die Windeln, den Babypuder und die anderen Utensilien. Vielleicht kam es ja auch nie so weit.
»Ihre direkte Nachbarin, Mrs Wallwin. Sie ist den ganzen Tag zu Hause, sagt sie.«
»Die? Die würden wir nie bitten, auf unsere Kinder aufzupassen.«
»Wieso nicht?«, fragte Cooper. »Was stimmt nicht mit ihr?«
»Sie ist unehrlich.«
Melvyn umklammerte noch immer die Flasche mit Desinfektionsmittel, als bräuchte er Halt. »Mir scheint die Frau völlig normal zu sein«, widersprach er. »Sie ist nur ein bisschen ruhig.«
»Melvyn, die Leute sind deshalb ruhig, weil sie was zu verbergen haben.«
»Was denn?«
»Was weiß ich. Hast du dir mal ihre Hände angesehen?«
»Was ist mit ihren Händen? Sind sie blutbesudelt oder was?«
»Sie zittern, wenn sie mit einem spricht.«
Cooper spürte, dass ihm die Gesprächsführung entglitt. Er sah sich nach Tracy Udall um und entdeckte sie in der Ecke, wo sie mit dem älteren Kind sprach und ein Bilderbuch bewunderte.
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Melvyn. »Wahrscheinlich hat sie irgendein Nervenleiden. Parkinson, oder wie heißt das? Oder vielleicht hat sie nur Angst vor dir. Das könnte ich ihr nicht einmal übel nehmen.«
Wendy warf den Kopf in den Nacken. »Ha, ha.«
»Äh, sorry, wenn ich Sie unterbreche«, mischte Cooper sich ein.
»Ist schon gut«, sagte Melvyn gutmütig. »Wahrscheinlich ist die Frau nur schüchtern und hat Angst vor fremden Leuten. Manche Menschen sind eben so.«
»Rede keinen Blödsinn. Sie ist verschlagen.«
»Aber, Wendy, du weißt doch gar nichts über sie.«
»Ich weiß genug. Ich habe ein komisches Gefühl bei ihr.«
»Ah, richtig.«
»Spar dir den Tonfall. Du weißt, dass ich mich auf meine Gefühle normalerweise verlassen kann.«
Einen Moment sagte keiner von beiden etwas. Cooper sah, dass sich das Gesicht des Babys kräuselte und in missbilligende Falten legte. In wenigen Sekunden würde ein ohrenbetäubendes Gebrüll losbrechen.
»Haben Sie Mrs Wallwin in der letzten Zeit eigentlich gesehen?«, fragte er.
Wendy sah ihn an, als hätte sie ihn gerade erst bemerkt. »Sie bleibt lieber für sich«, erwiderte sie.
»Dann haben Sie sie also nicht gesehen?«
»Nein, aber es geht ihr gut. Sie ist nicht tot oder so.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil sie manchmal an die Wand klopft, wenn wir den Fernseher zu laut aufdrehen.«
»Stören die Kinder sie?«
»Was, die zwei? Die weinen manchmal, aber nicht so schlimm.«
»Nein, ich dachte eher an die älteren Kinder hier in der Häuserreihe, an die der Oxleys.«
»Ich bin nicht sicher, was Sie damit meinen.«
»Also, manchmal können Kinder ziemlich boshaft sein. Und eine allein stehende alte Dame ist natürlich eine bevorzugte Zielscheibe. Die Kids hämmern an die Tür und laufen davon. Sie brüllen Schimpfworte durch den Briefschlitz. Stehlen Milchflaschen oder kritzeln unflätige Wörter an die Fensterscheiben.«
Wendy starrte ihn entgeistert an. »Sind Sie als Kind in schlechte Gesellschaft geraten?«, fragte sie.
»Nur ich, meinen Sie?«
»Ich glaube nicht, dass unsere Kinder hier solche Sachen machen.«
»Okay.«
»Ich meine, hin und wieder machen sie natürlich Ärger. Aber das wissen Sie wahrscheinlich.«
»Ja.«
»Aber so was tun sie ihren Nachbarn nicht an.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Cooper.
»Ziemlich sicher. Ihr Dad kennt da kein Pardon. Er würde sie umbringen, wenn sie bei den Nachbarn irgendwas anstellen würden.«
»In der letzten Zeit ist hier in der Gegend wiederholt eingebrochen worden. Freitagabend sogar in der Kirche.«
»Wir gehen nicht in die Kirche«, erklärte Melvyn.
»Nein, aber -«
»Haben die nicht Antiquitäten und so Zeug mitgehen lassen? Die Renshaws hat es erwischt, soviel ich weiß, und auch die Deardens weiter unten an der Straße.«
»Ja.«
»Sie sollten lieber nach einer Bande von außerhalb Ausschau halten.«
»Wir haben uns gefragt, ob Sie vielleicht nicht etwas Verdächtiges gesehen oder gehört haben.«
»Wir kommen doch keinen Schritt aus dem Haus«, sagte Melvyn. »Und von hier aus sieht man auch nicht viel.«
»Geben Sie uns Bescheid, falls Ihnen was einfällt.«
Das Baby fing zu weinen an. Leise zuerst, aber es drohte, rasch heftiger zu werden.WährendWendy in die Windel fluchte, schob Melvyn Cooper und Udall Richtung
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