Die einsamen Toten
schmerzhafter Eindringlichkeit vor, wie Sarah auf dem Bahnsteig in Glossop stand, immer aufgeregter wurde, als die Diesellok aus Manchester in den Bahnhof fuhr, die Hand halb erhoben, bereit zu winken, sobald sie ihre Tochter erblickte. Und als Emma nicht kam? Hatte Howard seine Frau beruhigt, hatte er nachgesehen, wann der nächste Zug kam, und Sarah über die Straße geführt und ihr einen Kaffee bestellt, während sie warteten? Wie hatte er reagiert, als die Stunden sich dahinschleppten und Emma noch immer nicht kam? Wie war Sarah mit der Situation umgegangen?
Aber Fry musste nicht lange überlegen. Sarah hatte die Hoffnung sicher nicht so rasch aufgegeben. Ihre Hoffnung war unverwüstlich. Sie brachte auch jetzt noch ihr Gesicht zum Leuchten, während sie gezwungenermaßen zum x-ten Mal dieselbe Geschichte erzählte.
Jedes Mal, wenn sie mit den Renshaws sprach, stellte Fry wieder fest, dass ihr Glaube spürbar und fast ansteckend war. Während sie jetzt in ihrem Wohnzimmer saß und über Emma
redete, klingelte es an der Tür. Beide Renshaws hielten hörbar die Luft an, und Sarah schaute sofort auf die Uhr. Während Howard aufsprang und an die Tür ging, machte sich seine Frau an den Kissen zu schaffen und strich ihr Kleid glatt, als würde jeden Moment ein wichtiger Besucher ins Zimmer treten.
Der Raum war so stark mit Erwartung aufgeladen, dass Fry sich gezwungen fühlte, selbst aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Sie erwartete fast, Emma in der Auffahrt stehen zu sehen, zwei Jahre älter als auf den Fotos, aber wiedererstanden in Fleisch und Blut und immer noch mit der blauen Jacke und der Jeans bekleidet, die Fry so oft in den Aussagen erwähnt fand. Aber es war nicht Emma Renshaw, sondern eine blasse Frau in einer grünen Jacke.
»Wer war das?«, fragte Sarah, als Howard zurückkam.
»Gail Dearden. Sie hatte Neuigkeiten.«
»So?«
»Wieder eine Beobachtung.«
»Was wurde beobachtet?«
»Wer«, verbesserte sie Sarah lächelnd. »Gail hilft uns, Ausschnitte für das Album zu sammeln.«
»Was für ein Album?«, fragte Fry mit zunehmender Beklemmung.
Das Album lag direkt neben ihr auf dem Bücherregal, ein dicker Band mit einem festen blauen Einband, der sehr abgegriffen aussah. Howard nahm das Buch beinahe andächtig in beide Hände und reichte es ihr, nicht ohne vorher Sarah einen um Zustimmung heischenden Blick zuzuwerfen.
Zögernd schlug Fry das Album auf und überflog die ersten paar Seiten. Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht getrogen.Vor ein paar Minuten hatte sie beiläufig gemeint, die Renshaws könnten nicht jedes heimat- oder obdachlose Mädchen auf der Welt kontaktieren. Mrs Renshaw hatte ihr daraufhin erklärt, sie würden es zumindest versuchen. Und das Album hier war der Beweis dafür.
»Sie können es gern eine Weile behalten«, bot Sarah ihr an. »Ich denke, es enthält jede Menge Anregungen für Sie.«
Auf der Dienststelle in der West Street saß DC Gavin Murfin mit zwei anderen Detective Constables vor dem Fernseher und sah sich die Nachrichten an. Sie warteten gespannt auf ein Interview mit Detective Chief Inspector Kessen über die Untersuchungen im Fall Neil Granger.
»Was gibt es Interessantes?«, fragte Ben Cooper und hängte sein Jackett über einen Stuhl.
»Wir haben eine Wette laufen, wie oft er nichts als leere Worthülsen von sich gibt«, erklärte Murfin. »Ich wette, ein gutes halbes Dutzend Mal.«
»Aha. Na, dann lasst euch aber bloß nicht von Diane erwischen.«
»Nicht doch, sie ist meilenweit weg. Sie ist wieder mal bei den Renshaws. Sie werden sicher noch eine Weile zusammen im Poesiealbum blättern.«
»Gavin, ich bitte dich.«
»He, da kommt er«, rief Murfin. »Holt doch mal’nen Block zum Mitschreiben.«
»Der Mord an einem jungen Mann ist nicht zu tolerieren«, dröhnte Chief Inspector Kessens Stimme aus dem Bildschirm.
»Geht ja schon gut los!«, feixte Murfin. »Ein viel versprechender Anfang. Ich würde sagen, der zählt zwei Punkte.«
»Kommt nicht in Frage«, widersprach einer der anderen Constables.
»Na, bloß keine Angst. Der hat noch jede Menge Zeit.«
»Die Polizei wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um den für dieses Verbrechen Verantwortlichen zu identifizieren.«
»Zwei!«
»Und wir hoffen in dieser Angelegenheit fest auf die Mitarbeit der Bevölkerung.«
»Drei!«
»Moment mal.«
»Abgedroschener geht es doch nicht, oder?«
»Nicht für die Öffentlichkeit.«
»Stimmt, mein Junge. Aber wir sind nicht die
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