Die einsamen Toten
ging, und so wollten sie ein neues Leben beginnen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Er ist in der Forschung tätig.«
»Wie interessant.«
Cooper hatte gelernt, Mrs Shelleys Erzählungen mit neutralen Bemerkungen zu begleiten. Irgendwann und mit etwas Nachdruck von seiner Seite käme sie schon auf den Punkt und würde ihm sagen, was er wissen wollte. Aber am besten war es, sie einfach in ihrem eigenen Rhythmus reden zu lassen, sonst fühlte sie sich genötigt und reagierte gereizt.
»Und das ist die Dame, die oben einziehen wird?«
»Nein, natürlich nicht. Peggy ist ihre Tochter.«
»Aha.«
»Ben, ich möchte, dass Sie freundlich zu ihr sind.«
Cooper hob beide Hände. »Warum, in Gottes Namen, sollte ich das nicht sein?«
»Na, weil sie Amerikanerin ist.«
»Aber es ist doch nichts falsch an Amerikanern.«
Mrs Shelley blickte ihn zweifelnd an. »Da bin ich mir nicht sicher. Sie scheint mir... nun, etwas überschwänglich zu sein.«
Cooper lächelte. »Ich bin sicher, sie ist in Ordnung.«
»Sie ist überhaupt nicht so wie meine alte Freundin. Wenn man bedenkt, dass sie ihre Tochter ist. Ich weiß nicht, was mit ihr in Chicago passiert ist. Ich vermute, sie hat es von ihrem Vater.Was halten Sie davon? Ich habe es in einem Kunstgewerbeladen in Buxton gekauft, in der Nähe des Crescent.«
Mrs Shelley öffnete die gestreifte Tüte und zeigte ihm den Inhalt.
»Was, um alles auf der Welt, ist das?«
Das Ding sah aus wie ein leeres, hölzernes Webschiffchen aus einer Baumwollspinnerei, nur dass es voller kleiner Öffnungen war, die winzigen Mündchen mit geschürzten Lippen glichen. Es hatte etwas vage Obszönes an sich. Aber vielleicht war das nur seine Fantasie.
»Das ist eine australische Banksia-Kapsel«, erklärte Mrs Shelley.
»Eine was?«
»Na, das steht jedenfalls auf dem Etikett. Australische Banksia-Kapsel. Sie hat mich vier Pfund gekostet.«
»Ein Schnäppchen.«
»Glauben Sie, sie gefällt ihr?«
Cooper zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ist das für meine neue Nachbarin?«
Mrs Shelley zögerte. »Es ist mein Einstandsgeschenk. Ich dachte mir, dann hätten wir gleich ein Gesprächsthema.«
Cooper betrachtete erneut den Gegenstand. Die winzigen Mündchen verzogen sich schmollend, als formten sie anzügliche Wörter.
»Tja, ich schätze mal, da dürfte Ihnen der Gesprächsstoff nicht so schnell ausgehen«, erwiderte er.
Gleich nach seinem Einzug in der Welbeck Street hatte Ben Cooper Mrs Shelley gefragt, ob er zusätzliche Riegel an Vorderund Hintertür seiner Wohnung anbringen könne. Die Schlösser waren durchaus in Ordnung, boten allein aber nicht viel
Sicherheit. Diane Fry hatte ihn davor gewarnt, zu nahe an sein Revier zu ziehen, wo er bekannt war wie ein bunter Hund. Zudem hatte sie ihm geraten, in die Wohnungstür ein Guckloch bohren zu lassen, damit er nie von einem Besucher überrascht werden konnte. Aber das schien ihm dann doch übertrieben zu sein. Er litt nicht unter Verfolgungswahn. Schließlich war das nur die Welbeck Street in Edendale.
Als es an seiner Tür klingelte, machte Cooper vor Überraschung fast einen Satz. Er hatte das Guckloch nicht für notwendig gehalten. Doch jetzt zögerte er merkwürdigerweise, die Tür zu öffnen, da er nicht sehen konnte, wer auf der anderen Seite stand. Er hätte es nicht als Vorahnung bezeichnet, eher schon als Bedürfnis, vorsichtig zu sein, als vagen Verdacht, dass es sein ganzes Leben verändern könnte, wenn er jetzt die Tür öffnete.
Die Frau, die vor ihm auf der Schwelle stand, war ihm gänzlich unbekannt. Sie war um die dreißig, dünn, mit glattem, blondem Haar. Ein alter blauer Rucksack hing über der Schulter ihrer Baumwolljacke.
»Oh. Ich glaube, Sie haben an der falschen Tür geklingelt«, sagte Cooper. »Sie wollen sicher nach oben.«
Die Frau wirkte verwirrt. »Sind Sie Ben? Ben Cooper?«
»Ja.«
»Dann sind Sie es, zu dem ich will.«
»Sind Sie nicht meine neue Nachbarin?«
»Ich denke nicht.«
»Tut mir Leid. Dann sind Sie nicht Peggy?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Mit jedem Moment, den sie auf seiner Türschwelle stand, kam sie ihm bekannter vor. Jede Bewegung, jede Geste löste ein Wiedererkennen in ihm aus. Dennoch war er sicher, ihr nie zuvor begegnet zu sein.
»Nein, ich bin nicht Peggy«, sagte sie, »wer immer das auch sein mag.«
»Ich kenne sie eigentlich auch nicht«, entgegnete Cooper.
»Ich weiß nur, dass sie in die Wohnung über mir ziehen soll. Sind Sie sicher, dass Sie nichts
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