Die einsamen Toten
Augen einhackten. Auch den langsamen Verfall seines Körpers hatte er nicht miterleben müssen. Wie sein Gewebe sich zersetzte und Gase den Inhalt seines Magens und seine Gedärme auf das Torfmoor hinauspressten.
Fry fragte sich, ob er den Dampf in der Dunkelheit hatte sehen können. Auf den am Tatort geschossenen Fotos war der Dampf deutlich zu erkennen. Es sah fast so aus, als würden die alten Züge noch in den Tunneln sechzig Meter unter dem Withens Moor verkehren. Aber die Züge waren seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gefahren.
18
C arl war um die zwanzig. Er wohnte zu Hause bei seiner Mutter, arbeitete im Familienbetrieb und führte ein Leben inWohlstand. Eines Morgens nahm er einen Telefonanruf entgegen, erklärte seiner Mutter, dass er nach Newcastle müsse – und kehrte nie wieder zurück. Er nahm weder seinen Wagen, sein Geld noch seine Kreditkarten mit. Fünfzehn Monate später, die Polizei war benachrichtigt, galt er immer noch als vermisst.
Nachdem die Ermittlungen zu nichts geführt hatten, wurde der Fall an die National Missing Persons Helpline weitergeleitet. Die Gesellschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, vermisste Personen aufzuspüren, verteilte Plakate und überprüfte ihre üblichen Quellen, stieß aber auf keinerlei offizielle Akten von Carl. Deshalb stellten sie ihn auf die wöchentliche Suchseite in ihrem Magazin Big Issue und baten ihre Leser um sachdienliche Hinweise. Fast zwanzig Leute riefen an, nachdem sie Carls Foto gesehen hatten, und sagten: »Das ist doch der Typ, bei dem ich immer die Zeitung kaufe!«
Die NMPH schickte per Fax einen Brief für ihn an Big Issue , und Carl rief tatsächlich an. Er wusste, dass es sein Foto war, nur der Name war ihm unbekannt; er hatte sich mittlerweile einen neuen zugelegt. Er sagte, er könne sich nur noch daran erinnern, durch die Straßen von Newcastle gejagt und anschließend von einem Lastwagenfahrer mitgenommen worden zu sein. Als sie eine Kaffeepause einlegten, sagte der Fahrer zu ihm: »Sie sollten sich mal das Gesicht waschen.« Im Spiegel sah Carl, dass er aus einer Kopfwunde geblutet hatte, was ihm jedoch nicht aufgefallen war.
Der Fahrer setzte ihn in Manchester ab, wo Carl sich drei Wochen lang auf der Straße herumtrieb, ohne zu wissen, wer er war. Sein einziger Besitz waren ein Medaillon des Heiligen Christopherus und
ein Schlüsselring mit einem Schnappschuss von ihm und einer Frau. Schließlich wandte er sich hilfesuchend an das Bürgerbüro, wo er von einem Wohnheim in Stockport erfuhr und Geld für eine Busfahrkarte bekam. In dem Heim wohnte er ungefähr ein Jahr, begann unter seinem neuen Namen Big Issue zu verkaufen, bekam irgendwann eine Wohnung und fing an, sich ein neues Leben aufzubauen. Doch die ganze Zeit über saß ihm die Angst im Nacken, dass irgendetwas Schreckliches in Newcastle geschehen sein könnte.Was hatte er getan?
Die NMPH versicherte ihm, dass er keinen Ärger mit der Polizei habe. Sein Bruder sagte, dass sich das ganz nach Carl anhöre, der drei Tage vor seinem Verschwinden aus Versehen einen Schlag auf den Kopf erhalten habe. Die NMPH arrangierte ein Treffen. Carl erkannte seinen Bruder. Glücklich und zu Tränen gerührt, fielen die beiden einander in die Arme. Danach kehrte Carl nach Hause zu seiner Mutter zurück.
»Sehen Sie?«, sagte Sarah Renshaw. »Das könnte auch Emma sein.«
Diane Fry gab ihr rasch die Zeitung zurück. Die Überschrift des nächsten Falles hatte automatisch ihre Aufmerksamkeit erregt: »Wir haben unsere lang vermisste Schwester gefunden.« Fry wollte das nicht lesen. Sie wäre vielleicht nur allzu leicht zu der Überzeugung gelangt, ihr Fall könnte als nächster Erfolg der National Missing Persons Helpline verbucht werden.
»Wir stehen mit allen Agenturen in Kontakt«, erklärte Sarah eifrig. »Sie versorgen uns regelmäßig mit Informationen. In den USA gibt es Child Find und Missing Kids. Dann natürlich die NMPH. Die Organisationen UK Missing Persons und People Searchers. Wir haben Emma bei allen registrieren lassen, und wir fragen regelmäßig nach. Wenn sie irgendwo auftaucht, geben sie uns Bescheid.«
»Sie sollten sich nicht allzu sehr auf solche Organisationen verlassen, Mrs Renshaw.«
»Aber sie haben Erfolg. Ich habe mir ihre Websites im Internet angesehen. Jede Woche leisten sie in einem anderen Fall wunderbare Arbeit. Sie spüren Vermisste auf, die unter Amnesie leiden und nicht wissen, wer sie sind. Oder sie finden Leute, die abgehauen
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