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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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einfallen, um mit ihm auf mein Zimmer zu gehen, okay?«
    »Was für einen Vorwand denn?«
    »Was weiß ich. Irgendwas. Sag ihm, dass dir die Musik zu laut ist, und du wohin willst, wo es ruhiger ist.«
    »Und was ist mit seinem Freund, der die ganze Zeit wie eine Klette an ihm hängt?«, fragte Alice weiter.
    »Um den kümmern wir uns«, antwortete Viola mit ihrem gemeinsten Lächeln.
    Dann stellte sie sich aufs Bett ihrer Schwester und trampelte mit den Füßen auf der hellgrünen Tagesdecke herum. Alice musste an ihren Vater denken, der es ihr sogar verbot, mit Schuhen über den Teppich zu laufen. Einen Moment lang fragte sie sich, was er wohl sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte, aber schnell verscheuchte sie diesen Gedanken wieder, zurück in ihren Magen.

    Viola zog jetzt die Schublade eines Hängeschränkchens über dem Bett auf, kramte ein wenig, weil sie nicht hineinschauen konnte, mit der Hand darin herum und holte dann ein mit rotem Stoff verkleidetes Kästchen hervor, das mit goldenen Schriftzeichen verziert war.
    »Hier, nimm«, sagte sie, indem sie die Hand zu Alice ausstreckte. Auf der Handfläche lag eine blau glänzende Pille, quadratisch, mit abgerundeten Ecken. In die Mitte waren die stilisierten Umrisse eines Schmetterlings eingelassen. Einen Moment lang hatte Alice wieder das dreckbehaftete Fruchtbonbon vor Augen, das sie von derselben Hand entgegengenommen hatte, und spürte es wieder in der Speiseröhre stecken.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Nimm einfach. Du wirst sehen, damit macht alles noch mehr Spaß.« Sie zwinkerte Alice zu. Die aber zögerte. Alle starrten sie an. Das ist wieder eine Prüfung, dachte sie, nahm die Pille zwischen die Finger und legte sie sich auf die Zunge.
    »Jetzt bist du so weit«, erklärte Viola zufrieden. »Dann mal los.«
    Im Gänsemarsch verließen die Mädchen das Zimmer, die Augen niedergeschlagen und mit einem wissenden Lächeln im Gesicht. Gib mir auch eine, bitte, bettelte Federica, doch Viola fertigte sie barsch ab und sagte: Warte, bis du dran bist.
    Alice ging als Letzte hinaus. Als ihr alle den Rücken zuwandten, führte sie eine Hand zum Mund und spuckte die Tablette hinein, steckte sie in die Tasche und schaltete das Licht aus.

13
    Denis sah sich von Viola, Giada, Federica und Giulia wie von vier Raubvögeln umringt.
    »Kommst du mit?«, fragte Viola ihn.
    »Wohin denn?«
    »Das erklären wir dir später«, kicherte sie.
    Denis blickte hilfesuchend zu Mattia, doch der war ganz ins Zittern der Cola am Becherrand vertieft. Die Musik war so laut, dass die Oberfläche der Flüssigkeit mit jedem Trommelschlag zuckte, und er wartete mit einer seltsamen Anspannung auf den Moment, da sie überlaufen würde.
    »Ich bleib lieber hier«, antwortete Denis.
    »Mamma mia, bist du eine Trantüte«, verlor Viola die Geduld. »Du kommst jetzt mit, basta!«
    Sie packte ihn am Arm. Denis wehrte sich halbherzig, doch als dann auch Giada zu ziehen begann, gab er sich geschlagen. Während sie ihn in die Küche schoben, schaute er zu seinem Freund, der sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte.
    Mattia bemerkte Alice, als diese eine Hand auf den Tisch
legte: Das Gleichgewicht war dahin, und die oberste dünne Schicht der Flüssigkeit lief über und sammelte sich wie ein dunkler Ring um den Becherboden herum.
    Unwillkürlich hob er die Augen, und ihre Blicke kreuzten sich.
    »Wie geht’s?«, fragte sie.
    Mattia nickte. »Gut.«
    »Gefällt dir die Fete?«
    »Hhm.«
    »Ich krieg Kopfschmerzen bei der lauten Musik.«
    Alice wartete auf eine Antwort. Sie schaute Mattia an, und es kam ihr so vor, als atme er gar nicht. Seine Augen wirkten sanft, leidend. Wie bei ihrer ersten Begegnung bekam sie auch jetzt Lust, den Blick dieser Augen auf sich zu ziehen, seinen Kopf zwischen die Hände zu nehmen und ihm zu sagen, dass alles gut werde.
    »Kommst du mit in ein anderes Zimmer?«, fragte sie geradeheraus.
    Mattia nickte so, als hätte er auf genau diese Worte gewartet.
    »Okay«, sagte er.
    Alice ging ihm voraus durch den Flur, während er ihr mit zwei Schritt Abstand folgte. Wie gewohnt vor sich auf den Boden blickend, bemerkte er dabei, dass sich Alices rechtes Bein beim Gehen, so wie alle Beine der Welt, im Knie anmutig beugte und streckte, und ihr Fuß lautlos den Boden berührte. Ihr linkes Bein aber war steif. Um es nach vorne zu bringen, musste sie es einen leichten Halbkreis beschreiben lassen. Dadurch geriet ihr Becken für den Bruchteil einer Sekunde aus dem

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