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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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dieser Einstellung nicht das Geringste änderte.
    Zu Hause entnahm er seinem Ringbuch einen Stapel Blätter, dick genug, dass der Stift sanft darübergleiten konnte und nicht über die harte Tischplatte kratzte. Er schob die Kanten exakt zusammen, zunächst oben und unten, dann die Seiten. Von den Federhaltern auf dem Schreibtisch wählte er sich den aus, der noch am besten gefüllt war, schraubte die Kappe ab und steckte sie auf das hintere Ende, damit sie nicht verloren ging. Dann schrieb er genau in die Mitte des obersten Blattes, ohne dass er dazu die Kästchen zählen musste:
    2 760 889 966 649. Er schraubte die Kappe wieder auf und legte den Federhalter seitlich neben das Papier. Zweitausendsiebenhundertsechzigmilliardenachthundertneunundachtzig millionenneunhundertsechsundsechzigtausendsechshundertneunundvierzig, las er mit lauter Stimme. Dann noch einmal, aber leiser, so als wolle er sich diesen Zungenbrecher einprägen. Dies sollte seine Zahl sein, beschloss er. Er war sich sicher, dass niemand sonst auf der Welt, niemand sonst seit den Anfängen dieser Welt diese Zahl zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte sie bis zu diesem Moment noch niemand je auf ein Blatt geschrieben, geschweige denn laut vorgelesen.
    Nach kurzem Zögern hielt er den Füller zwei Zeilen darunter und schrieb: 2 760 889 966 649. Das ist ihre, dachte er. In seinem Kopf nahmen die Ziffern die bläuliche Farbe von
Alices Fuß im flackernden Lichtschein des Fernsehapparats an.
    Das könnten Primzahlzwillinge sein, dachte Mattia. Wenn das stimmt …
    Schlagartig verharrte er bei diesem Gedanken und begann nach Teilern der beiden Zahlen zu suchen. Mit der 3 war es leicht: Man brauchte nur die Quersumme zu bilden, und schon sah man, ob sie ein Vielfaches von 3 war. Die 5 schied von vornherein aus. Vielleicht gab es auch für die 7 eine Regel, aber Mattia erinnerte sich nicht mehr so genau und machte sich daran, schriftlich zu teilen. Das Gleiche, in immer komplizierteren Rechnungen, mit der 11, der 13 und so fort. Während er die 37 ausprobierte, nickte er zum ersten Mal ein, und der Stift glitt aus seiner Hand aufs Papier. Bei 47 gab er auf. Die Spannung in seinem Magen hatte sich aufgelöst, war in die Muskeln abgeflossen, so wie sich Gerüche in der Luft verflüchtigen, und er spürte nichts mehr davon. In dem Raum gab es nichts anderes mehr als ihn selbst und eine Reihe herumliegender Blätter, die mit sinnlosen Teilungen beschrieben waren. Die Uhr zeigte auf Viertel nach drei am frühen Morgen.
    Mattia nahm noch einmal das erste Blatt zur Hand, auf dem in der Mitte die beiden Zahlen standen, und kam sich wie ein Idiot vor. Er riss es mittendurch, und dann noch einmal, bis die Kanten scharf genug waren, um sie wie eine Klinge unter dem Fingernagel seines linken Ringfingers hindurchzuführen.
     
    Während der vier Jahre auf der Universität hatte ihn die Mathematik in die verborgensten und faszinierendsten Bereiche des menschlichen Denkens geführt. Er hatte es sich angewöhnt,
die Beweise aller Lehrsätze, die ihm im Laufe des Studiums begegneten, mit ritueller Gewissenhaftigkeit noch einmal niederzuschreiben. Auch an Sommernachmittagen hielt er die Rollläden geschlossen und arbeitete bei künstlichem Licht. Er räumte alles vom Schreibtisch, was seinen Blick hätte ablenken können, um sich ganz allein mit dem Blatt zu fühlen, und schrieb, ohne innezuhalten. Zögerte er zu lange bei einem Abschnitt oder hatte er einen Ausdruck nach dem Gleichheitszeichen nicht perfekt ausgerichtet, so fegte er das Blatt vom Schreibtisch und begann noch einmal von vorn. War die letzte Zeile dieser Seite mit Symbolen, Buchstaben und Ziffern vollgeschrieben, so setzte er die Abkürzung q.e.d. darunter, und für einen Augenblick kam es ihm dann so vor, als habe er einen kleinen Teil der Welt in Ordnung gebracht. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Finger, ohne sie aneinanderzureiben.
    So saß er da und verlor langsam den Kontakt zu dem Geschriebenen; die Symbole, die kurz zuvor noch durch die Bewegung seines Handgelenks aufs Papier geflossen waren, kamen ihm nun fremd vor, erstarrt in einem Raum, zu dem ihm der Zugang verwehrt war. Im Dunkel des Zimmers füllte sich sein Kopf wieder mit düsteren, bedrängenden Gedanken, und meistens griff er dann zu einem Buch, schlug es an einer beliebigen Stelle auf und begann zu lernen.
    Komplexe Analysis, projektive Geometrie oder Tensorrechnung hatten es nicht

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