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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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und streckte wie ein kleines Mädchen die Arme nach ihm aus.

    »Nur Mut, mein Held«, neckte sie ihn.
    Ergeben ließ Mattia die Schultern noch ein wenig tiefer hängen und beugte sich ungelenk vor, um Alice hochzuheben. Nie zuvor hatte er jemanden auf diese Weise getragen. Er legte einen Arm unter ihre Knie und den anderen unter ihren Rücken, und als er sie anhob, staunte er, wie leicht sie war.
    So wankte er auf den Flur zu. Dabei spürte er, entschieden zu nahe, durch das hauchdünne Gewebe des Hemdes Alices Atem an seinem Körper und hörte, wie die Brautschleppe über den Boden raschelte. Sie waren kaum über die Schwelle, da ließ ihn ein plötzliches Geräusch, ein langes, deutliches »Ratsch«, auf der Stelle verharren.
    »Mist!«, rief er. Der Rock hatte sich an einer Türangel verfangen. Der eine Spanne lange Riss sah aus wie ein zu einem höhnischen Lachen geöffneter Mund. Ein wenig ratlos standen sie da und starrten auf das Loch.
    Mattia wartete darauf, dass Alice etwas sagte, dass sie die Fassung verlor, auf ihn losging. Er hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, obwohl sie es ja war, die dieses blöde Spielchen immer weitergetrieben hatte, als würde sie das Unheil suchen.
    Mit ausdrucksloser Miene blickte Alice auf den Riss.
    »Was soll’s«, sagte sie endlich. »Das Kleid braucht sowieso niemand mehr.«

Im Wasser und außerhalb
    (1998)

21
    Primzahlen sind nur durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar und dachte manchmal, dass sie irrtümlich in dieser Folge, aufgereiht wie Perlen einer Halskette, gelandet waren. Andere Male dachte er, dass sie vielleicht gern wie alle anderen gewesen wären, einfach beliebige Zahlen, was ihnen aus welchen Gründen auch immer aber nicht gelang. Dieser zweite Gedanke kam ihm vor allem abends, in dem chaotischen Geflecht von Bildern, die dem Schlaf vorausgehen, wenn das Hirn zu müde ist, um sich noch selbst zu belügen.
    In einem Seminar im zweiten Semester hatte Mattia gelernt, dass einige Primzahlen noch einmal spezieller als die anderen sind. Primzahlzwillinge werden sie von Mathematikern genannt: Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet
sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren. Zahlen wie 11 und 13, wie 17 und 19 oder 41 und 43. Bringt man die Geduld auf, weiter und weiter zu zählen, stellt man fest, dass solche Pärchen immer seltener werden. Man stößt auf immer weniger Primzahlen, die verloren dastehen in diesem lautlosen, monotonen, nur aus Ziffern bestehenden Raum, und es beschleicht einen das beklemmende Gefühl, dass die Pärchen, die einem bis dahin begegnet sind, rein zufällig zusammenstanden und dass es eigentlich ihr Schicksal ist, allein zu bleiben. Aber dann, wenn man schon aufgeben und nicht mehr weiterzählen will, stößt man auf ein weiteres Pärchen von Zwillingen, die sich, eng umschlungen, aneinander festhalten. Mathematiker sind davon überzeugt, dass man, egal wie weit man fortschreitet, immer wieder solchen Zwillingen begegnen wird, obwohl niemand sagen kann, wo sie stecken, bis man sie tatsächlich gefunden hat.
    Für Mattia waren sie beide, Alice und er, genau dies, Primzahlzwillinge, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um sich wirklich berühren zu können. Er hatte ihr diesen Gedanken noch niemals anvertraut, und wenn er sich vorstellte, wie er ihr davon erzählte, verdampfte die dünne Schweißschicht auf seinen Händen vollends, sodass er zehn Minuten lang keinerlei Gegenstände mehr berühren konnte.
    Eines Tages im Winter kehrte er von Alice nach Hause zurück, nachdem sie bei ihr den ganzen Nachmittag nur vor dem Fernseher gehockt und von einem Sender zum anderen geschaltet hatten. Mattia hatte weder auf die Worte noch auf die Bilder geachtet, sondern auf Alices rechten Fuß, der auf dem Wohnzimmertischchen lag und sich immer wieder
in sein Gesichtsfeld schob, wie der Kopf einer Schlange. Mit hypnotisierender Regelmäßigkeit beugte und streckte Alice ihre Zehen. Je länger er es beobachtete, desto deutlicher spürte Mattia etwas Hartes, Beunruhigendes im Magen, und er bemühte sich, so lange wie möglich nur auf einen Punkt zu starren, damit sich an

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