Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
über diese neue unerwartete Belästigung klagen würde.
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Ihr Vater hatte diese Idee mit dem Fotografieren für die Laune eines sich langweilenden kleinen Mädchens gehalten. Dennoch hatte er Alice zum dreiundzwanzigsten Geburtstag eine Canon-Spiegelreflexkamera gekauft, mit allen Schikanen, großer Tasche und Stativ, und sie hatte sich bedankt mit einem Lächeln, strahlend und nicht zu greifen wie eine Bö eisigen Windes. Sogar einen sechsmonatigen Kurs an der Volkshochschule bezahlte er ihr, von dem Alice keinen einzigen Termin versäumte. Aber die Abmachung war klar, wenn auch unausgesprochen: Die Uni geht vor.
Zu einem Zeitpunkt, so exakt bestimmbar wie eine Schattenlinie, hatte sich Fernandas Krankheit verschlimmert und alle drei hineingezogen in eine immer enger werdende Spirale neuer Verpflichtungen, die unabwendbar zu Apathie und gegenseitiger Gleichgültigkeit führte. Alice war nicht mehr zur Uni gegangen, und ihr Vater hatte so getan, als merke er nichts davon. Schuldgefühle, deren Ursprünge längst zu einer anderen Zeit gehörten, hinderten ihn daran, sich entschlossen
bei seiner Tochter durchzusetzen, ja überhaupt ernsthaft mit ihr zu reden. Manchmal dachte er, dass es reichen würde, irgendwann einmal abends zu ihr ins Zimmer zu gehen und zu ihr zu sagen … Was sagen? Seine Frau schwand aus dem Leben, verlor sich wie eine feuchte Stelle auf einem T-Shirt, die langsam abtrocknet, und dadurch lockerte sich der Faden, der ihn mit seiner Tochter verband, noch mehr, er schleifte schon am Boden, gab ihr die Freiheit, für sich selbst zu entscheiden.
Am Fotografieren liebte Alice den Vorgang mehr als das Resultat. Sie liebte es, die Kamera zu öffnen und den neuen Film einzulegen, ihn gerade so weit aus der Kapsel zu ziehen, dass die Perforation in der Führung einrasten konnte, und sich vorzustellen, dass dieser leere Film bald schon etwas aufnehmen würde, aber nicht zu wissen was, ein paarmal auszulösen, um den Film zu transportieren, sich ein Objekt vorzunehmen, scharf zu stellen, mit dem Oberkörper vorund zurückzugehen und nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, ob bestimmte Teile der Realität dazugehören oder ausgeschlossen sein sollten, vergrößert oder verzerrt.
Immer wenn sie das Klicken des Auslösers hörte, gefolgt von einem leichten Rascheln, musste sie daran denken, wie sie als kleines Mädchen im Garten ihres Ferienhauses in den Bergen Heuschrecken gefangen und in den zum Kelch zusammengelegten Händen festgehalten hatte. Sie dachte, dass es beim Fotografieren genauso war, dass sie die Zeit einfing und auf Zelluloid festhielt, sie auf dem Sprung zum nächsten Augenblick erwischte.
In dem Kurs hatte man ihnen beigebracht, den Tragriemen zweimal ums Handgelenk zu schlingen. Auf diese Weise müsse jemand, der einem die Kamera stehlen wolle, den Arm gleich
mit abreißen. Im Gang des Krankenhauses Maria Ausiliatrice, wo ihre Mutter lag, hatte Alice dergleichen nicht zu befürchten, trug ihre Canon aus Gewohnheit aber auf diese Weise.
Sie hielt sich dicht an der zweifarbig gestrichenen Wand, streifte sie hin und wieder mit der rechten Schulter, um niemanden anzustoßen. Die mittägliche Besuchszeit hatte gerade begonnen, und wie eine flüssige Masse strömten die Leute durch die Klinikflure.
Die Zimmertüren, aus Aluminium und Sperrholz gefertigt, standen offen. Jede Abteilung hatte ihren unverwechselbaren Geruch. In der Onkologie roch es nach Desinfektionsmitteln und in Alkohol getränkten Mullbinden.
Fernandas Zimmer war das zweitletzte im Gang. Alice trat ein. Da lag die Mutter in einem Schlaf, der nicht der ihre war, angeschlossen an Geräte, die keinerlei Geräusche von sich gaben. Das Licht war schwach und dämmrig. Auf dem Fensterbrett standen in einer Vase rote Blumen, die Soledad am Vortag vorbeigebracht hatte.
Alice legte die Hände und die Kamera an den Rand des Bettes, dorthin, wo die Leintücher, die in der Mitte durch die Umrisse ihrer Mutter angehobenen waren, wieder flach ausliefen.
Jeden Tag kam sie hierher, wusste aber nicht, was sie tun sollte. Die Krankenschwestern erledigten bereits alles. Ihre Aufgabe sollte es wohl sein, mit ihrer Mutter zu sprechen. Viele Angehörige taten das, verhielten sich so, als sei der Komapatient in der Lage, Gedanken zu lesen und zu begreifen, wer da an seinem Bett stand und im Geist mit ihm redete. Viele glaubten daran, dass die Krankheit einen neuen Kommunikationsweg zwischen den Menschen geschaffen hatte.
Alice glaubte das
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