Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
nicht, und in diesem Krankenzimmer
fühlte sie sich nur allein. Meistens blieb sie einfach sitzen, wartete, bis die halbe Stunde vorüber war, und ging dann wieder. Begegnete sie einem Arzt, erkundigte sie sich nach dem Befinden ihrer Mutter, bekam aber immer wieder das Gleiche zu hören. Aus dem, was die Ärzte sagten und wie sie die Augenbrauen hochzogen, verstand sie nur: Wir warten, bis es nicht mehr geht.
An diesem Morgen hatte sie jedoch eine Bürste mitgebracht. Die nahm sie aus der Tasche und begann, ihrer Mutter sanft, und ohne ihrem Gesicht zu nahe zu kommen, das Haar zu kämmen, zumindest jene Strähnen, die nicht auf das Kopfkissen gedrückt waren. Sie war lenkbar wie eine Puppe.
Alice zog die Arme ihrer Mutter unter dem Leintuch hervor und legte sie parallel zueinander zu einer entspannteren Haltung aufs Bett. Ein weiterer Tropfen der Salzlösung löste sich aus der Infusionsflasche, floss durch die Kanüle und verschwand in Fernandas Arm. Alice stellte sich ans Fußende des Bettes und setzte die Canon auf der Aluminiumstange auf. Sie schloss das linke Auge und schaute mit dem anderen durch den Sucher. Noch nie zuvor hatte sie ihre Mutter fotografiert.
Sie löste aus und lehnte sich, ohne das Auge vom Sucher zu nehmen, ein wenig nach vorn.
Da ließ ein Rascheln sie zusammenzucken, und helles Licht breitete sich in dem Raum aus.
»So ist es besser«, sagte eine Männerstimme hinter ihr.
Alice fuhr herum. Vor dem Fenster stand ein Arzt, der mit der Jalousienschnur herumhantierte. Er war jung.
»Ja, danke«, antwortete Alice, ein wenig verlegen.
Der Arzt steckte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels und blickte sie an, als wartete er, dass sie weitermachte.
Sie beugte sich vor und knipste wieder, mehr oder weniger wahllos, fast um ihm den Gefallen zu tun.
Der denkt bestimmt, dass ich spinne, ging es ihr durch den Kopf.
Ganz ungezwungen trat der Arzt ans Bett ihrer Mutter, warf einen Blick auf das Krankenblatt und kniff, während er las, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann bewegte er sich zum Infusionsständer, drehte mit dem Daumen an einem Rädchen, und sofort begannen die Tropfen schneller zu fließen. Zufrieden blickte er sie an, und Alice dachte, dass seine ruhige Art etwas Tröstliches hatte.
Der Arzt trat zu ihr und stützte sich mit beiden Armen am Bettgestell auf.
»Diese bornierten Krankenschwestern«, murmelte er vor sich hin. »Überall wollen sie es dunkel haben. Als wäre es hier drinnen nicht schon schwer genug, Tag und Nacht voneinander zu unterscheiden.«
Er wandte ihr das Gesicht zu und lächelte sie an.
»Bist du die Tochter?«
»Ja.«
Er nickte, ohne Mitleid zu zeigen.
»Ich bin Doktor Rovelli.«
»Fabio«, fügte er dann hinzu, so als habe er kurz nachgedacht.
Alice gab ihm die Hand und stellte sich vor. Eine Weile betrachteten sie die schlafende Fernanda, ohne ein Wort zu sagen.
Schließlich klopfte er zweimal gegen das metallene Bettgestell, das sich hohl anhörte, und machte Anstalten, sich zu entfernen. An Alice vorübergehend, neigte er sich ein wenig zu ihrem Ohr vor.
»Verrat mich nicht«, flüsterte er, indem er zwinkernd auf die lichtdurchfluteten Fenster zeigte.
Als die Besuchszeit zu Ende war, ging Alice über die Treppe die zwei Stockwerke hinunter, durchquerte die Vorhalle und verließ durch die sich automatisch vor ihr öffnenden Glastüren das Gebäude.
Über den Hof ging sie weiter zum Eingangstor, blieb bei dem Kiosk stehen und fragte den alten, schwitzenden Verkäufer nach einer Flasche Mineralwasser. Hunger hatte sie zwar auch, aber mittlerweile konnte sie diesen Impuls ganz gut unterdrücken. Einer ihrer Tricks waren kohlensäurehaltige Getränke, die den Magen füllten und den kritischen Moment um die Mittagszeit überwinden halfen.
Ein wenig unbeholfen wegen der Kamera an ihrem Handgelenk kramte sie in ihrer kleinen Umhängetasche nach dem Portemonnaie.
»Ich mach das schon«, sagte jemand hinter ihr.
Fabio, der Arzt, den sie gerade eine halbe Stunde zuvor kennengelernt hatte, beugte sich zu dem Mann in dem Kiosk vor und reichte ihm einen Geldschein. Dann lächelte er Alice zu, auf eine Art, die mögliche Einwände im Keim erstickte. Er trug keinen Kittel mehr, sondern ein himmelblaues Poloshirt und verströmte einen intensiven Duft von Parfum, den sie zuvor nicht an ihm bemerkt hatte.
»Und eine Cola«, fügte er an den Mann im Kiosk gewandt hinzu.
»Danke«, sagte Alice.
Als sie die Flasche aufschrauben
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