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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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wollte, rutschten ihre Finger über den Verschluss, der sich nicht rührte, hinweg.
    »Darf ich?«, sagte Fabio.

    Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und öffnete sie nur mit Daumen und Zeigefinger. Alice dachte, dass daran gar nichts Besonderes war, dass das jeder gekonnt hätte, sie auch, wären ihre Hände nur nicht so verschwitzt gewesen. Und doch fand sie diese Geste seltsam faszinierend, eine kleine Heldentat, die nur für sie vollbracht worden war.
    Fabio gab ihr das Wasser zurück, und sie bedankte sich noch einmal. So standen sie beide da, tranken aus ihren Flaschen und blickten sich dabei verstohlen an. Es schien so, als müssten sie erst herausfinden, worüber sie miteinander reden könnten. Fabio hatte kurzes, lockiges Haar. An den Stellen im direkten Sonnenlicht ging das Kastanienbraun ins Rötliche über. Alice hatte den Eindruck, dass er sich dieses Spiels von Licht und Schatten bewusst war, dass ihm nichts von all dem entging, was um ihn herum geschah.
    Gemeinsam, als hätten sie sich abgesprochen, entfernten sie sich ein paar Schritte vom Kiosk. Alice wusste nicht, wie sie sich verabschieden sollte. Sie fühlte sich in seiner Schuld, zum einen, weil er ihr das Getränk bezahlt, zum anderen, weil er ihr auch noch die Flasche geöffnet hatte. Ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass sie gar nicht wusste, ob sie überhaupt schon gehen wollte.
    Fabio merkte es.
    »Wo musst du hin? Vielleicht kann ich dich ein Stück begleiten«, fragte er ganz direkt.
    »Zum Auto.«
    »Dann also zum Auto.«
    Sie sagte weder Ja noch Nein, lächelte nur und blickte dabei in eine andere Richtung. Fabio vollführte eine ehrerbietige Geste mit einer Hand, die wohl so viel wie Bitte, nach dir bedeuten sollte.

    Sie überquerten die Hauptstraße und bogen in eine kleine Seitenstraße ein, wo keine Bäume mehr Schutz vor der Sonne boten.
    Es war Alices Schatten, an dem der Arzt, während sie so nebeneinander her gingen, die Asymmetrie ihres Ganges bemerkte. Durch das Gewicht der Kamera etwas eingesunken, bildete Alices rechte Schulter einen Kontrapunkt zur Linie ihres stocksteifen linken Beines. In dem länglichen Schatten schien ihre Zerbrechlichkeit derart auf die Spitze getrieben, dass sie eindimensional wirkte, wie ein dunkles Segment, das sich in zwei dazu passende Gliedmaßen und gleich viele mechanische Prothesen verzweigte.
    »Hast du was am Bein?«, fragte er sie.
    »Wie?«, antwortete Alice aufgeschreckt.
    »Ich meine, ob du dich verletzt hast. Wie ich sehe, humpelst du.«
    Alice spürte, wie ihr gesundes Bein zusammenzuckte. Sofort versuchte sie, ihren Gang zu korrigieren, indem sie das lahme Bein so weit wie möglich, bis zur Schmerzgrenze, beugte. Wie brutal und treffend das Wort humpeln doch war, dachte sie.
    »Ich hatte einen Unfall«, sagte sie und fügte dann, fast entschuldigend, hinzu: »Ist schon lange her.«
    »Mit dem Auto?«
    »Nein, ein Skiunfall.«
    »Ich liebe Skifahren«, rief Fabio begeistert, ein Gesprächs-
    thema gefunden zu haben.
    »Ich hasse es«, erwiderte Alice trocken.
    »Schade.«
    »Ja, schade.«
    Schweigend liefen sie weiter nebeneinanderher, der junge
Arzt gelassen, wie umgeben von einer festen, durchsichtigen Sphäre der Selbstsicherheit. Seine Lippen blieben auch dann noch zu einem Lächeln verzogen, wenn er gar nicht lächelte. Er schien sich einfach wohlzufühlen, es schien, als lerne er jeden Tag in einem Krankenzimmer eine junge Frau kennen, die er dann plaudernd zum Wagen begleitete. Alice hingegen kam sich furchtbar hölzern vor. Ihre Sehnen waren angespannt, und sie spürte, wie ihre Gelenke knirschten und die Muskeln steif an den Knochen klebten.
    Sie deutete auf einen blauen Fiat Seicento, wie um Das ist er zu sagen, und Fabio breitete bedauernd die Arme aus. Von hinten näherte sich ein Wagen; wie aus dem Nichts schwoll das Geräusch an, um dann wieder abzuebben, bis es verschwunden war.
    »Du bist wohl Fotografin?«, fragte der Arzt, nur um Zeit zu gewinnen.
    »Ja«, antwortete Alice, ohne lange nachzudenken. Sofort bereute sie es. Im Moment war sie nur eine Frau, die die Uni geschmissen hatte, durch die Straßen bummelte und aufs Geratewohl herumfotografierte. Sie fragte sich, ob das schon genügte, um sie zur Fotografin zu machen, ab wann genau man jemand war und wann noch nicht.
    Sie biss sich auf die schmale Unterlippe. »Sagen wir, mehr oder weniger«, fügte sie hinzu.
    »Darf ich mal sehen«, fragte der Arzt, indem er die geöffnete Hand zu ihr ausstreckte,

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