Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
Neulinge typische Übergenauigkeit. Während er die einzelnen Schritte nachvollzog, entspannte sich seine Stirn, und ohne es zu merken, begann er, sich mit dem Finger über die Unterlippe zu streichen. Er vergaß Mattia, der stocksteif weiter in derselben Haltung vor ihm saß, auf seine Füße starrte und sich im Geiste immer wieder sagte: Mach, dass es stimmt, mach, dass es stimmt, so als hinge von dem Urteil des Professors sein ganzes restliches Leben ab. Und wahrscheinlich hätte er sich, während er sich das sagte, selbst nicht vorstellen können, dass es tatsächlich so war.
    Endlich legte Niccoli die Blätter behutsam wieder auf den Schreibtisch und lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkend, auf seinem Sessel zu seiner Lieblingshaltung zurück.
    »Nun, ich denke, Sie sind so weit«, sagte er.
     
    Die öffentliche Diplomprüfung sollte Ende Mai stattfinden, und Mattia bat seine Eltern, nicht daran teilzunehmen. Wieso das denn, wagte nur seine Mutter ihn zu fragen. Er schüttelte den Kopf und blickte zum Fenster. Die Scheibe spiegelte wider, wie die Familie um einen viereckigen Tisch saß. Mattia sah das Spiegelbild seines Vaters, der den Arm seiner Mutter ergriff und mit der anderen Hand, an sie gewandt, abwinkte. Dann sah er das Spiegelbild von Adele, die, eine Hand vor den Mund gelegt, vom Tisch aufstand und zum Spülbecken ging, um abzuwaschen, obwohl sie mit dem Abendessen noch gar nicht fertig waren.
    Am Tag der Diplomprüfung stand Mattia auf, noch bevor der Wecker klingelte. Es dauerte einige Minuten, bis die belastenden Bilder, die ihm die ganze Nacht, wirr wie bekritzeltes Papier, vor Augen gestanden hatten, ganz verflogen
waren. Im Wohnzimmer traf er niemanden an, nur ein ganz neuer, eleganter blauer Anzug und daneben ein perfekt gebügeltes, hellrosafarbenes Hemd lagen auf dem Sofa. Auf dem Hemd fand er einen Zettel, auf dem stand: Für unseren Diplommathematiker , unterschrieben mit Mama und Papa , aber nur in der Handschrift seines Vaters. Mattia zog die Sachen an und verließ die Wohnung, ohne sich ein einziges Mal im Spiegel anzuschauen.
    Während er seine Diplomarbeit verteidigte, blickte er den Mitgliedern der Prüfungskommission direkt in die Augen, jedem gleich lang und ohne die Stimme zu verändern. Professor Niccoli saß in der ersten Reihe, nickte mit ernster Miene und beobachtete verstohlen das wachsende Erstaunen in den Gesichtern der Kollegen.
    Als der Moment der feierlichen Verleihung gekommen war, stellte sich Mattia in einer Reihe mit den anderen neuen Akademikern auf. Sie waren die Einzigen, die standen, in dem überdimensionalen Saal des Auditorium maximum. Wie ein Kribbeln auf seinem Rücken spürte Mattia die Blicke des Publikums und versuchte sich abzulenken, indem er den Rauminhalt des Saales schätzte und dazu als Maß die Gestalt des Universitätspräsidenten nahm. Doch es nützte nichts, das Kribbeln kletterte seinen Hals hinauf, verzweigte sich dort und packte seine Schläfen. Er hatte die Vorstellung, wie Tausende von Insekten in seine Ohren krabbelten, Tausende hungriger Motten in sein Gehirn Gänge fraßen.
    Die Verleihungsformel, die der Präsident bei jedem Kandidaten wiederholte, schien ihm jedes Mal länger zu werden und wurde mehr und mehr übertönt von einem Rauschen in seinem Kopf, sodass er dann, als er an der Reihe war, sogar seinen Namen überhörte. Etwas Festes, einem Eiswürfel ähnlich,
steckte ihm im Hals fest. Er drückte die Hand des Präsidenten, die sich so trocken anfühlte, dass er instinktiv nach der Metallschnalle seines Gürtels tastete, den er aber heute gar nicht trug. Das gesamte Publikum erhob sich von den Sitzen, und ein Geräusch wie eine Meeresbrandung hob an. Niccoli trat auf ihn zu und gratulierte ihm, indem er ihm anerkennend zweimal auf die Schultern klopfte. Noch bevor der Beifall verebbt war, hatte Mattia schon den Saal verlassen und hastete durch den Gang und vergaß dabei sogar, zuerst die Zehenspitzen aufzusetzen, damit seine Schritte nicht vom Boden widerhallten.
    Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft, sagte er sich immer wieder. Doch je näher er dem Ausgang kam, desto deutlicher spürte er, wie sich ein tiefer Spalt in seinem Magen auftat. Draußen erfassten ihn das Sonnenlicht, die Hitze und der Verkehrslärm. Er schwankte auf der Schwelle und hatte Mühe, nicht den Betonabsatz hinunterzustürzen. Auf dem Gehweg standen ein paar Leute zusammen, sechzehn waren es, wie Mattia auf einen Blick zählte. Einige

Weitere Kostenlose Bücher