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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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um sich die Kamera geben zu lassen.
    »Sicher.«
    Alice wickelte sich den Riemen vom Handgelenk und reichte sie ihm. Er drehte sie eine Weile zwischen den Händen hin und her, nahm dann die Verschlusskappe ab und richtete
das Objektiv zunächst vor sich auf den Boden, schließlich hoch zum Himmel.
    »Wow«, machte er. »Das ist ja ein Profiapparat.«
    Sie errötete, während er Anstalten machte, ihr die Kamera zurückzugeben.
    »Du kannst ruhig mal ein Foto machen«, sagte Alice.
    »Nein, nein, um Gottes willen. Mit so was kenne ich mich nicht aus. Mach du mal.«
    »Von was denn?«
    Unschlüssig den Kopf hin und her drehend, blickte Fabio sich um. Dann zuckte er mit den Achseln.
    »Von mir«, sagte er.
    Alice schaute ihn skeptisch an.
    »Wozu?«, fragte sie, mit einem leicht koketten Unterton, den sie gar nicht beabsichtigt hatte.
    »Dann müssen wir uns noch mal treffen. Zumindest, damit du mir das Foto zeigen kannst.«
    Alice zögerte. Ganz bewusst schaute sie, zum ersten Mal, Fabio in die Augen und schaffte es nicht, seinem Blick länger als eine Sekunde standzuhalten. Sie waren blau und ohne Schatten, klar wie der Himmel hinter ihm, Augen, in denen sie sich verlor und verloren vorkam, so als stehe sie nackt in einem gigantischen leeren Raum.
    Er ist schön, dachte sie. Er ist schön auf eine Weise, wie ein Mann schön sein sollte.
    Sie blickte durch den Sucher und richtete das Objektiv genau auf sein Gesicht. Er lächelte, kein bisschen verlegen, neigte noch nicht einmal den Kopf, wie es die meisten Menschen vor einer Kamera unwillkürlich tun. Alice stellte die Schärfe ein, drückte den Zeigefinger hinunter, und ein Klick zerriss die Luft.

23
    Eine Woche nach dem ersten Treffen wurde Mattia wieder bei Niccoli vorstellig. Der Professor erkannte ihn schon an seiner Art anzuklopfen, was ihn nicht wenig verstörte. Als er Mattia eintreten sah, atmete er tief durch und stellte sich darauf ein, sofort in Wut zu geraten, sollte er von dem Studenten einen Satz zu hören bekommen wie: Es gibt da noch einige Dinge, die ich nicht richtig verstehe. Oder: Ich wollte Sie bitten, mir zwei, drei Abschnitte noch mal genauer zu erklären. Wenn ich ihn nur ordentlich einschüchtere, dachte Niccoli, schaffe ich es vielleicht noch, ihn wieder loszuwerden.
    Mattia fragte noch einmal, ob er näher treten dürfe, und legte dann, ohne dem Professor ins Gesicht zu schauen, den Artikel, den er durcharbeiten sollte, auf den Schreibtisch. Als Niccoli ihn anhob, flatterte ihm ein Stoß einzelner Blätter aus den Händen, nummeriert und in schöner Handschrift beschrieben, die den zusammengehefteten Seiten beigelegt waren. Der Professor schob sie wieder zusammen und warf einen Blick darauf: Die in dem Artikel erwähnten
Rechnungen waren fein säuberlich ausgeführt und eine jede mit einem Hinweis auf die entsprechende Textstelle versehen. Er überflog sie eilig und brauchte sie gar nicht genauer unter die Lupe zu nehmen, um zu wissen, dass sie stimmten: Schon die Anordnung der Seiten ließ auf die Richtigkeit schließen.
    Er war ein wenig enttäuscht, denn er spürte, wie ihm der geplante Wutausbruch im Halse stecken blieb wie ein Niesen, das in der Nase kitzelt, aber dann doch ausbleibt. Während er gedankenversunken Mattias Arbeit betrachtete, nickte er lange und versuchte vergeblich, einen Anflug von Neid zu unterdrücken, auf diesen jungen Kerl, der so untauglich fürs Leben schien, aber in der Mathematik zweifellos eine Begabung zeigte, wie er sie bei sich selbst vielleicht nie verspürt hatte.
    »Sehr gut«, sagte er schließlich, aber mehr zu sich selbst, ohne die Absicht, ein echtes Kompliment auszusprechen, und fügte mit betont gelangweilter Stimme hinzu: »In den letzten Abschnitten wird ein spezielles Problem angesprochen. Es geht da um den Verlauf von Zeta für …«
    »Das habe ich bearbeitet«, unterbrach Mattia ihn. »Und ich glaube, es gelöst zu haben.«
    Niccoli sah ihn an, zunächst misstrauisch, dann mit unverhohlenem Spott.
    »Ach, tatsächlich?«
    »Auf der letzten Seite meiner Aufzeichnungen.«
    Der Professor befeuchtete den Zeigefinger an der Zunge und blätterte alle Seiten bis zur letzten durch. Die Stirn in Falten gelegt, las er eilig Mattias Beweisführung, ohne viel davon zu verstehen, aber auch ohne etwas einwenden zu können. Dann ging er sie noch einmal von vorn durch, langsamer nun, und jetzt schien ihm der Gedankengang klar zu sein, ja, streng logisch, wenn auch hier und da getrübt durch
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