Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
hatten Blumen in den Händen und warteten mit Sicherheit auf seine Mitprüflinge. Einen Augenblick lang wünschte sich Mattia, dass seinetwegen auch jemand gekommen wäre, hatte das Bedürfnis, sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Körper eines anderen sinken zu lassen, so als sei der Inhalt seines Kopfes plötzlich zu schwer geworden und mit seinen eigenen Beinen allein nicht mehr zu tragen gewesen. Er schaute sich nach seinen Eltern um, nach Alice und Denis, sah aber nur Fremde, die nervös auf die Uhr blickten oder mit irgendwo aufgelesenen Blättern herumwinkten, die rauchten, sich lautstark unterhielten und überhaupt nichts mitbekamen.
Er schaute auf die Urkunde, die er zusammengerollt in der
Hand hielt und auf der in schöner Kursivschrift geschrieben stand, dass Mattia Balossino nun Diplommathematiker war, dass er einen Beruf hatte und erwachsen geworden war und dass es jetzt an der Zeit sei, sich als Signor Balossino seinen Platz im Leben zu erobern und das Gleis zu verlassen, dem er, mit geschlossenen Augen und verstopften Ohren von der Grundschule bis zum Diplom gefolgt war. Ein Atemzug blieb ihm im Halse stecken, als habe die Luft nicht mehr genügend Antrieb, um ihre vorgegebene Runde ganz zu schaffen.
Und nun?, fragte er sich.
Entschuldigen Sie bitte, bat ihn eine Frau, klein gewachsen und mit erhitztem Gesicht, und er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Und plötzlich folgte er ihr wieder ins Gebäude hinein, als könnte sie ihn zu der Antwort führen, nach der er suchte, durchlief noch einmal den Gang in der Gegenrichtung und dann zum ersten Stock hinauf. Er betrat die Bibliothek und setzte sich auf seinen Stammplatz vor dem Fenster, legte die Urkunde auf den leeren Stuhl neben sich und streckte die Arme auf dem Tisch aus. Dann konzentrierte er sich auf seinen Atem, der weiterhin an irgendeinem Hindernis zwischen Kehle und Lunge festhing. Das hatte er schon häufiger erlebt, aber noch nie so lange.
Du kannst nicht vergessen haben, wie man atmet, sagte er sich. So was kann man unmöglich vergessen. Fertig, basta.
Er atmete kräftig aus und hielt dann einige Sekunden lang die Luft an. Dann öffnete er den Mund ganz weit und atmete ein, so tief er konnte, bis ihm die Brust wehtat. Diesmal gelangte der Atem bis hinunter in die Lunge, und Mattia hatte den Eindruck, die weißen, runden Sauerstoffmoleküle sehen zu können, die sich durch die Adern verteilten und nun auch wieder in seinem Herzen herumwirbelten.
Eine ganze Weile blieb er in dieser Haltung sitzen, in einem Zustand der Benommenheit und der Unruhe, ohne etwas zu denken, ohne die Studenten, die kamen und gingen, zu bemerken.
Dann plötzlich trat ihm etwas vor die Augen, ein roter Fleck, und er schrak auf. Sein Blick stellte sich ein auf eine in durchsichtige Folie gewickelte Rose, die jemand unsanft, wie eine Ohrfeige klatschend, auf den Tisch geworfen hatte. Seine Augen folgten dem Stiel und erkannten, an den hervorstehenden Fingerknöcheln, die ein wenig roter als die Finger selbst waren, sowie den rund und sehr kurz geschnitten Nägeln, Alices Hand.
»Du wirst wirklich ein Arschloch.«
Mattia betrachtete sie wie eine Erscheinung. Als nähere er sich von Weitem dieser Szene, kam es ihm vor, von einem verschwommenen Ort, an den er sich schon nicht mehr richtig erinnern konnte. Als er nahe genug war, erkannte er in Alices Gesicht eine tiefe, nie erlebte Traurigkeit.
»Warum hast du mir nichts gesagt? Du hättest mir Bescheid sagen müssen. Unbedingt!«
Erschöpft ließ sie sich auf den Stuhl vor Mattia sinken, schaute hinaus auf die Straße und schüttelte dabei den Kopf.
»Wie hast du …?«, begann Mattia.
»Von deinen Eltern. Ich weiß es von deinen Eltern.« Alice fuhr herum und starrte ihn an, mit einer brodelnden Wut im Blick ihrer blauen Augen. »Findest du das etwa richtig?«
Mattia zögerte. Dann schüttelte er den Kopf, und eine undeutliche, verzerrte Gestalt bewegte sich mit ihm auf der zusammengerollten Blumenfolie.
»Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich dabei sein würde. Wie oft hab ich mir das vorgestellt. Aber von dir…«
Alice brach ab, der Rest des Satzes blieb zwischen ihren Lippen hängen, und Mattia überlegte, wie alles um ihn herum plötzlich wieder so real hatte werden können. Er versuchte sich zu erinnern, wo er gerade noch gewesen war, aber es wollte ihm nicht gelingen.
»Aber von dir kommt nichts«, beendete Alice den Satz, »rein gar nichts. Wie immer schon.«
Er spürte, wie sein Kopf
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