Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
auftraten, berührten ihn nicht wirklich, prallten ab an seiner Ausgeglichenheit, seiner Vernunft. Er zog es vor, sie zu ignorieren, so zu tun, als gäbe es sie gar nicht, und versperrte ihm ein Hindernis den Weg, wich er ihm aus und umkurvte es, ohne sich aber auch nur einen Millimeter von seiner Bahn abbringen zu lassen, sodass er es bald vergessen hatte. Zweifel kannte er nicht.
    Er wusste, wie ein Ziel zu erreichen war, und achtete daher auf Alices Stimmungen, auf eine respektvolle, auch ein wenig pedantische Art. Schwieg sie, fragte er sie: Ist etwas passiert? Aber niemals zweimal hintereinander. Er interessierte sich für ihre Fotos, für das Befinden ihrer Mutter und füllte ihr Schweigen mit Berichten von seinem eigenen Tagesablauf, mit amüsanten Anekdoten, die er hier und da in seiner Abteilung erlebt oder aufgeschnappt hatte.
    Alice ließ sich von seiner Selbstgewissheit einnehmen, überließ sich ihr mehr und mehr, so wie sie sich als kleines Mädchen, wenn sie »Toter Mann« machte, der Tragkraft des Wassers überlassen hatte.
    So erlebten sie die langsame und unsichtbare wechselseitige Durchdringung ihrer Welten, wie zwei Sterne, die sich in immer kürzeren Umlaufbahnen um eine gemeinsame Himmelsachse drehen und denen es offenbar bestimmt ist, an irgendeiner Stelle von Raum und Zeit miteinander zu verschmelzen.
    Bei Alices Mutter waren alle Therapien eingestellt worden. Mit einem Kopfnicken hatte ihr Ehemann zugestimmt, sie endlich in einen schmerzlosen Schlaf unter einer schweren Morphiumdecke versinken zu lassen. Alice wartete nur auf das Ende und schaffte es nicht, sich deswegen schuldig zu fühlen. Ihre Mutter lebte bereits wie eine Erinnerung in ihr, hatte sich wie ein Bausch Blütenstaub irgendwo in ihrem
Kopf niedergelassen, wo sie für Alices restliches Leben ihren Platz haben würde, erstarrt zu einer Handvoll immer gleicher stummer Bilder.
    Fabio hatte eigentlich nicht geplant, sie zu fragen, und war auch nicht der Typ für impulsive Handlungen, doch an diesem Nachmittag erschien ihm Alice anders als sonst; eine gewisse Nervosität fiel ihm auf, daran erkennbar, wie sie die Finger verschränkte und immer wieder seinem Blick ausweichend die Augen hin und her wandern ließ. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war er voreilig, unvorsichtig.
    »Dieses Wochenende sind meine Eltern am Meer«, ließ er, wie aus dem Nichts, plötzlich fallen.
    Alice schien es gar nicht gehört zu haben, jedenfalls antwortete sie nicht. Seit einigen Tagen ging es in ihrem Kopf zu wie in einem Wespennest. Seit seiner Diplomprüfung vor über einer Woche hatte Mattia sie nicht mehr angerufen. Und es war klar, dass es nun an ihm war, sich zu melden.
    »Ich dachte, du könntest am Samstagabend zu mir zum Essen kommen«, setzte Fabio hinzu.
    Für einen Augenblick wankte seine Selbstsicherheit, als er dies sagte, doch sofort schüttelte er alle Zweifel wieder ab. Er steckte die Hände in die Taschen seines Kittels und stellte sich darauf ein, jedwede Antwort mit derselben Leichtigkeit hinzunehmen. Er verstand es, sich einen Unterschlupf zu suchen, noch bevor er ihn brauchte.
    Alice deutete ein Lächeln an. »Ich weiß nicht so recht«, sagte sie leise, »vielleicht ist es nicht …«
    »Ja, du hast recht«, fiel Fabio ihr ins Wort, »ich hätte dich gar nicht fragen sollen. Verzeih mir.«
    Schweigend beendeten sie ihre Runde, und als sie wieder vor Fabios Abteilung standen, murmelte er ein langgezogenes
Okay vor sich hin. Sie wechselten einen raschen Blick und schlugen dann sofort die Augen nieder. Fabio musste lachen.
    »Wir wissen beide nie, wie wir uns verabschieden sollen, oder?«, sagte er.
    »Stimmt«, antwortete sie lächelnd, indem sie sich mit der Hand durchs Haar fuhr, eine Strähne ergriff und leicht daran zog.
    Der Kies unter Fabios Schuhsohlen knirschte, als er plötzlich einen entschlossenen Schritt auf sie zu machte und ihr einen Kuss - wie in einem zärtlichen Übergriff - auf die linke Backe gab, bevor er sich sofort wieder zurückzog.
    »Dann denk wenigstens noch mal darüber nach«, sagte er.
    Er lächelte sie an, ganz offen, mit breitem Mund und leuchtenden Augen. Dann wandte er sich ab und ging schnurstracks auf den Eingang zu.
    Jetzt dreht er sich noch mal um, dachte Alice, als er jenseits der Glastür war.
    Doch Fabio bog um die Ecke und war im nächsten Augenblick schon im Gang verschwunden.

25
    Der Brief war an Dottore Mattia Balossino adressiert und fühlte sich so leicht und weich an, dass man

Weitere Kostenlose Bücher