Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
wieder zwischen den Schultern einsackte und die Motten erneut über seinen Nacken zu krabbeln begannen.
»Es war doch nicht so wichtig«, sagte er leise. »Ich wollte nicht, dass …«
»Ach, sei doch still«, unterbrach sie ihn unwirsch. Schschsch machte jemand an einem Nebentisch, und in der sekundenlangen Stille danach schwang die Erinnerung an diese Silbe mit.
»Du bist blass«, sagte Alice. Sie schaute Mattia prüfend an. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich weiß nicht. Mir ist ein wenig schwindlig.«
Alice stand auf, strich sich die Haare aus der Stirn - zusammen mit den bösen Gedanken -, beugte sich zu Mattia vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange, leicht und leise, der mit einem Mal alle Insekten verscheuchte.
»Du bist bestimmt unheimlich gut gewesen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Das weiß ich.«
Mattia spürte, wie ihn ihre Haare am Hals kitzelten, spürte, wie sich der schmale Zwischenraum, der sie trennte, mit ihrer Wärme füllte, die sich sanft wie Baumwolle auf seine Haut legte. Gern hätte er sie an sich gedrückt, doch seine Hände rührten sich nicht, so als wären sie eingeschlafen.
Alice richtete sich auf. Sie nahm die Diplomurkunde von
dem Stuhl, entrollte sie und begann zu lächeln, während sie halblaut las.
»Wow«, sagte sie schließlich. Es klang ehrlich begeistert. »Das muss gefeiert werden. Los, Herr Mathematikus, erheb dich«, befahl sie.
Sie reichte Mattia die Hand. Er ergriff sie, zunächst etwas unsicher, ließ sich dann aber von Alice aus der Bibliothek führen, mit demselben blinden Vertrauen, mit dem er sich Jahre zuvor in die Mädchentoilette hatte ziehen lassen. In der Zwischenzeit hatten sich die Proportionen ihrer Hände verändert. Nun wurden ihre Finger vollkommen von den seinen umfasst, wie eine Muschel von der rauen Schale.
»Wo wollen wir hin?«, fragte er sie.
»Erst mal raus hier. Draußen scheint die Sonne. Die wird dir guttun.«
Sie verließen das Gebäude, und diesmal schrak Mattia nicht zurück vor dem Licht, dem Verkehr und den vor dem Eingang versammelten Leuten.
Im Auto kurbelten sie die Seitenfenster herunter. Mit beiden Händen am Lenkrad steuerte Alice den Wagen und sang dabei Pictures of You im Radio mit, auf Verdacht, ohne den Text zu kennen. Mattia spürte, wie sich seine Muskeln langsam entspannten, sich der Form des Sitzes anpassten, und es kam ihm so vor, als lasse er - wie das Auto die dunkle, klebrige Abgaswolke - seine Vergangenheit und seine Sorgen zurück. Immer leichter, wie eine auslaufende Dose, fühlte er sich. Er schloss die Augen und schaffte es, einige Sekunden lang im Fahrtwind, der ihm ins Gesicht wehte, und auf den Schwingen von Alices Stimme zu schweben.
Als er die Augen wieder aufmachte, waren sie auf dem Weg, der zu ihm nach Hause führte. Er fragte sich, ob sie
dort eine Überraschungsparty für ihn vorbereitet hatten, und flehte, dass dem nicht so sein möge.
»Jetzt sag schon, wo du hinwillst«, forderte er Alice noch einmal auf.
»Keine Sorge«, murmelte sie, »wenn du mich irgendwann mal in deinem Wagen mitnimmst, darfst du auch entscheiden, wo es hingeht.«
Zum ersten Mal schämte sich Mattia der Tatsache, mit zweiundzwanzig noch keinen Führerschein zu haben. Das war auch so etwas, das er beiseitegeschoben hatte, auch so eine Selbstverständlichkeit für andere Jugendliche, der er aus dem Weg gegangen war, um sich so weit wie möglich aus dem Getriebe des Lebens herauszuhalten. Wie Popcornessen im Kino oder sich auf die Lehnen von Bänken zu hocken, wie von den Eltern verhängte Ausgangssperren zu missachten, mit Bällchen aus zusammengeknüllter Alufolie Fußball zu spielen oder sich einem Mädchen nackt zu zeigen. Das würde sich ab sofort ändern, dachte er und beschloss, so bald wie möglich den Führerschein zu machen. Für Alice würde er es tun, um sie herumfahren zu können. Auch wenn er davor zurückschreckte, es sich einzugestehen, aber wenn er mit ihr zusammen war, schien es ihm plötzlich sinnvoll, all die Dinge zu tun, die normale Leute eben so taten.
Sie waren bereits in der Nähe von Mattias Wohnung angekommen, als Alice plötzlich in eine andere Richtung abbog, ein Stück der Hauptstraße folgte und dann nach ein paar Hundert Metern vor dem Park anhielt.
» Voilà «, sagte sie, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus.
Den Blick starr auf den Park gerichtet, blieb Mattia wie angewurzelt sitzen.
»Was ist? Willst du nicht aussteigen?«
»Hier nicht«, antwortete er.
»Komm, stell dich
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