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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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nicht so an.«
    Mattia schüttelte den Kopf.
    »Lass uns irgendwo anders hinfahren«, sagte er.
    »Wo ist das Problem?« Sie ließ nicht locker. »Wir machen doch nur einen Spaziergang.«
    Sie trat zu Mattia ans Fenster auf der Beifahrerseite. Wie erstarrt saß er da, als drücke ihm jemand ein Messer ins Kreuz. Die Finger spinnenartig gespreizt, hielt er sich am Griff der Wagentür fest und starrte auf die Reihe der Bäume vielleicht hundert Meter vor ihm. Grüne, breite Blätter verdeckten jetzt ihr knorriges Skelett, die vielfach verzweigte Struktur des Geästs. Verbargen das entsetzliche Geheimnis.
    Er war nie wieder dort gewesen, seit jenem letzten Mal mit der Polizei, an dem Tag, als sein Vater Gib Mama die Hand zu ihm sagte, sie aber die Hand zurückgezogen und in die Tasche gesteckt hatte. Damals hatte er noch beide Arme verbunden, von den Fingergliedern bis zum Ellbogen, mit einer dicken, in mehreren Schichten gewickelten Bandage, sodass es einer gezackten Klinge bedurft hätte, um sie bis zur Haut zu durchbohren. Er musste den Polizisten zeigen, wo Michela gesessen hatte. Die genaue Stelle wollten sie wissen und machten dann Fotos, erst von Weitem, dann von allen Details.
    Als seine Eltern schließlich mit ihm nach Hause fuhren, sahen sie vom Wagen aus, wie Bagger mit ihren mechanischen Armen in den Fluss griffen und große Mengen nasser, dunkler Erde aufhoben und ans Ufer fallen ließen. Mattia hatte bemerkt, dass seine Mutter den Atem anhielt, bis der Haufen am Boden zerfallen war. In diesem Schlamm musste Michela stecken, doch man fand sie nicht darin. Sie wurde niemals gefunden.

    »Ich will hier weg. Komm«, sagte Mattia noch einmal. Sein Tonfall war nicht flehend. Eher bestimmt, ärgerlich.
    Alice stieg wieder ein.
    »Manchmal weiß ich wirklich nicht, ob …«
    »Da hab ich meine Zwillingsschwester zurückgelassen«, unterbrach er sie mit monotoner, fast unmenschlicher Stimme. Er hob den rechten Arm und zeigte auf die Bäume im Park, hielt ihn dann weiter ausgestreckt, so als habe er ihn vergessen.
    »Deine Zwillingsschwester? Was redest du denn da? Du hast doch keine Zwillingsschwester…«
    »Doch.« Mattia nickte langsam, den Blick weiter starr auf die Bäume gerichtet.
    »Sie sah genau so aus wie ich. Haargenau so wie ich«, sagte er.
    Und dann, ohne Alice die Zeit zu geben, ihn darum zu bitten, erzählte er ihr alles. Ließ alles heraus, die ganze Geschichte, wie ein berstender Damm. Erzählte von dem Wurm, von dem Fest, von den Legosteinen, erzählte vom Fluss, den Glasscherben, dem Zimmer im Krankenhaus, von Richter Berardino und der Suchmeldung im Fernsehen, von dem Psychologen, erzählte alles, so wie er es noch nie irgendwem gegenüber getan hatte. Erzählte, ohne sie anzuschauen, ohne sich aufzuregen. Dann schwieg er. Mit der rechten Hand tastete er unter dem Sitz herum, fand aber nur abgerundete Kanten. Und erneut fühlte er sich weit entfernt, wie außerhalb seines eigenen Körpers.
    Alice streichelte ihm übers Kinn und drehte seinen Kopf sanft in ihre Richtung. Es war nur ein Schatten, den Mattia sich zu ihm vorbeugen sah. Instinktiv schloss er die Augen, und dann spürte er Alices warmen Mund auf dem seinen,
spürte auf ihren Wangen die Tränen, die vielleicht auch die seinen waren, und schließlich ihre so leichten Hände, die seinen Kopf festhielten und seine Gedanken packten und sie einsperrten in diesem Raum zwischen ihnen, der nun aufgehoben war.

24
    Im letzten Monat hatten sie sich häufig gesehen, stets ohne eigentliche Verabredung, aber auch nie wirklich zufällig. Während sich Alice nach der Besuchszeit immer noch eine Weile in der Nähe von Fabios Abteilung herumtrieb, richtete er es so ein, dass sie ihn finden konnte. Dann spazierten sie durch den Hof, nahmen fast immer denselben Weg, auf den sie sich, ohne darüber zu reden, geeinigt hatten. Der Zaun um das Klinikgelände herum begrenzte den Schauplatz ihres Zusammenseins, schnitt einen gesonderten Bereich aus der Wirklichkeit aus, in dem dieses Mysteriöse, Unbelastete, das zwischen ihnen schwang, nicht mit einer Bezeichnung versehen werden musste.
    Fabio schien die Dynamik des Werbens genau zu kennen, ließ den Dingen ihre Zeit und hielt sich auch mit seinen Worten zurück. Er schien den Regeln eines genau festgelegten Protokolls zu folgen. Er verstand etwas von Alices tiefem Schmerz, ließ sich aber nicht mit hineinziehen, sondern blieb draußen, am Rande stehen. Die Extreme des Lebens, egal in
welcher Form sie

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