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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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nicht geglaubt hätte, Mattias ganze Zukunft stecke darin. Erst zum Abendessen hatte ihm seine Mutter den Umschlag gezeigt, vielleicht weil es ihr peinlich war, ihn ungefragt geöffnet zu haben. Dabei war es keine Absicht gewesen, sie hatte einfach nicht auf den Namen des Empfängers geschaut: Mattia bekam ja nie Post.
    »Das ist heute für dich gekommen«, sagte sie, indem sie ihm den Umschlag über die Teller hinweg reichte.
    Mattia warf einen fragenden Blick zu seinem Vater, der nur unbestimmt nickte. Bevor er den Brief zur Hand nahm, fuhr er sich mit der Papierserviette über die bereits sauber gewischte Oberlippe und betrachtete das runde, komplizierte Logo, das in blauer Farbe neben der Anschrift aufgedruckt war, ohne den geringsten Aufschluss zu geben, worum es in dem Schreiben gehen mochte. Endlich zog er, indem er den Umschlag am Rand festhielt, das gefaltete Blatt hervor, öffnete
es und begann zu lesen, seltsam beeindruckt bei dem Gedanken, dass dieser Brief tatsächlich an ihn, Dottore Mattia Balossino, gerichtet war.
    Lauter als nötig klimperten seine Eltern mit dem Besteck, während er las, und sein Vater räusperte sich mehrmals. Als er fertig war, faltete Mattia das Blatt wieder zusammen, mit den gleichen Handgriffen, nur in umgekehrter Reihenfolge wie kurz zuvor, um es wieder in die Ausgangsform zu bringen. Er steckte es zurück in den Umschlag und legte diesen auf Michelas Stuhl.
    Er nahm die Gabel wieder zur Hand, aß aber nicht, sondern blickte so verwirrt auf die Zucchinischeiben vor ihm auf dem Teller, als wären sie von irgendwoher plötzlich dort aufgetaucht.
    »Das scheint doch eine tolle Chance für dich zu sein«, sprach Adele ihn an.
    »Schon.«
    »Willst du annehmen?«
    Während sie fragte, spürte Mattias Mutter eine plötzliche Hitzewallung im Gesicht, denn sie merkte, dass sie keine Angst hatte, ihn zu verlieren. Im Gegenteil wünschte sie sich von ganzem Herzen, dass er das Angebot annehmen und aus dieser Wohnung verschwinden würde, von diesem Platz, den er allabendlich ihr gegenüber beim Essen einnahm, den Kopf tief über den Teller gebeugt und mit dieser ansteckenden Aura des Leids, die ihn umgab.
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Das ist aber doch eine tolle Chance«, wiederholte seine Mutter noch einmal.
    »Schon.«
    Ein langes Schweigen folgte, dem Mattias Vater mit umständlichen
Betrachtungen über die Leistungsfähigkeit der nordeuropäischen Länder ein Ende machte, über den Fleiß ihrer Bewohner und die Sauberkeit ihrer Straßen, wobei er das Verdienst daran allein dem strengen Klima zuschrieb und dem spärlichen Tageslicht, das die Möglichkeiten der Ablenkung einschränke. Er war sich sicher, dass dieses die Gründe seien, auch wenn er niemals dort gewesen war.
    Als Mattia nach dem Essen die Teller, in der gleichen Ordnung wie jeden Abend, zusammenzustapeln begann, legte ihm sein Vater eine Hand auf die Schulter und sagte: »Geh nur, ich mach das schon.« Mattia nahm den Umschlag vom Stuhl und zog sich in sein Zimmer zurück.
    Er setzte sich aufs Bett und begann den Brief zwischen den Fingern hin und her zu drehen. Er bog ihn ein paarmal vor und zurück und ließ die Pappe des Umschlags schnalzen. Schließlich betrachtete er das Logo neben der Anschrift noch einmal genauer. Ein Raubvogel, wahrscheinlich ein Adler, hatte den Kopf zur Seite gedreht, so dass man seinen spitzen Schnabel im Profil erkennen konnte. Er spreizte die Flügel, die ebenso wie die Krallenspitzen gegen einen Kreis stießen, der durch einen Fehler im Druck leicht oval wirkte. Ein weiterer Kreis, größer und konzentrisch zu dem inneren, umgab den Namen der Universität, die Mattia eine Stelle anbot. Die gotischen Schriftzeichen, all die k ’s und h ’s im Namen sowie die diagonal durchgestrichenen o ’s, die in der Mathematik eine leere Menge bedeuteten, ließen Mattia an ein mächtiges düsteres Gebäude mit hallenden Fluren und himmelhohen Decken denken, umgeben von einem millimeterkurz gehaltenen Rasen - ein Gebäude, das still und verlassen dalag wie eine Kathedrale am Ende der Welt.

    Dieser fremde Ort in der Ferne stand für seine Zukunft als Mathematiker, barg ein Versprechen auf Rettung, war wie ein unberührter Raum. Hier zu Hause hingegen war Alice, nur Alice, und darum herum nichts als Sumpf.
    Es begann wie am Tag der Diplomprüfung. Wieder blieb ihm ein Atemzug mitten im Halse stecken und bildete einen Pfropfen. Er schnappte nach Luft, als wäre plötzlich aller Sauerstoff aus seinem

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