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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Freunde, fern aller Straßen, deren Namen er kannte, fand ihn die Liebe. Valerio hieß er, ein Italiener, jung und zu Tode erschrocken, genau wie er selbst. In einem kleinen Apartment nur wenige Blocks von der Rambla entfernt, lebten sie einige Monate zusammen, eine intensive Zeit, die wie im Flug verging und diesen sinnlosen Schleier aus Schmerz und Niedergeschlagenheit auflöste, wie der erste klare Abend nach tagelangem prasselndem Regen.
    Zurück in Italien, verloren sie sich aus den Augen, ohne dass Denis darunter litt. Mit einem ganz neuen Selbstvertrauen, das er nie mehr verlieren sollte, ließ er sich auf andere Beziehungen ein, die gleichsam hinter der Ecke nur auf ihn gewartet zu haben schienen. Von den alten Freundschaften war nur die zu Mattia geblieben. Hin und wieder nahmen sie Kontakt auf, hauptsächlich telefonisch, und dabei kam es vor, dass sie minutenlang schwiegen und ein jeder, untermalt von den rhythmischen tröstlichen Atemzügen des anderen am anderen Ende der Leitung, seinen eigenen Gedanken nachhing.
    Als jetzt das Telefon klingelte, war Denis gerade mit Zähneputzen
beschäftigt. In der Wohnung seiner Eltern ging spätestens nach dem zweiten Signalton jemand ran, denn länger brauchte man nicht, um von einem beliebigen Punkt aus den nächsten Apparat zu erreichen.
    Denis, es ist für dich, rief seine Mutter, aber er hatte keine Eile. Er spülte sich den Mund gut aus, trocknete ihn mit dem Handtuch ab und warf noch einen Blick auf die beiden oberen Schneidezähne, die sich, wie er in den letzten Tagen zu sehen glaubte, langsam übereinanderschoben, weil die Weisheitszähne von den Seiten dagegendrückten.
    »Ja, hallo?«
    »Ciao.«
    Mattia nannte nie seinen Namen. Er wusste, dass seine Stimme für den Freund unverwechselbar war, und außerdem war es ihm unangenehm, sich am Telefon vorzustellen.
    »Nun, Dottore, wie geht’s?«, begrüße Denis ihn fröhlich. Er hatte ihm die Sache mit der Diplomfeier nicht übel genommen, weil er gelernt hatte, den tiefen Graben zu respektieren, den Mattia um sich herum gezogen hatte. Jahre zuvor hatte er diesen Graben überspringen wollen und war hineingestürzt. Nun gab er sich damit zufrieden, am Rand zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen. Die Stimme von Mattia löste nichts mehr aus in seinem Bauch, doch in seinen Gedanken war er präsent und würde es auch immer bleiben, als die einzige echte Vergleichsgröße für alle, die nach ihm kamen.
    »Stör ich?«, fragte Mattia.
    »Nein. Ich dich?«, nahm Denis ihn auf den Arm.
    »Ich hab doch angerufen.«
    »Stimmt ja. Also, erzähl schon: Deiner Stimme nach würde ich sagen, dass etwas im Busch ist.«
    Mattia atmete laut in den Hörer, und Denis merkte, dass
er Mühe hatte, einen Anfang zu finden. Er nahm den Kuli zur Hand, der neben dem Telefon lag, und begann damit herumzuspielen, indem er ihn zwischen den Fingern der rechten Hand hin und her wandern ließ. Als er ihm runterfiel, bückte er sich nicht, um ihn aufzuheben. Mattia redete immer noch nicht.
    »Willst du gefragt werden?«, sagte Denis irgendwann. »Meinetwegen können wir …«
    »Man hat mir eine Stelle im Ausland angeboten«, unterbrach Mattia ihn. »An einer Uni. Einer namhaften.«
    »Wow«, kommentierte Denis keineswegs überrascht. »Hört sich stark an. Wirst du annehmen?«
    »Ich weiß nicht. Soll ich?«
    Denis lachte künstlich.
    »Das fragst du mich? Ich hab ja noch nicht mal mein Examen. Aber ich würde auf alle Fälle gehen. Die Tapeten zu wechseln tut immer gut.«
    Es lag ihm auf der Zunge, und außerdem, was hält dich schon hier? hinzuzufügen, er sagte es aber nicht.
    »Es ist nämlich so, dass vor Kurzem etwas passiert ist«, begann Mattia zögerlich. »An dem Tag, als ich mein Diplom erhielt …«
    »Hm.«
    »Alice hat mich abgeholt und …«
    »Ja?«
    Mattia zögerte wieder.
    »Kurz gesagt, wir haben uns geküsst«, erklärte er schließlich.
    Denis’ Finger, die den Hörer hielten, verkrampften sich. Er war selbst überrascht von dieser Reaktion, denn er war ja eigentlich nicht mehr eifersüchtig, was Mattia anging. Aber
in diesem Moment war ihm, als käme die Vergangenheit wieder hoch, und es schnürte ihm die Kehle zu. Für einen kurzen Augenblick sah er sie wieder vor sich, Mattia und Alice, wie sie Hand in Hand Violas Küche betraten, und er spürte noch einmal die aufdringliche Zunge Giulia Mirandis, die wie ein zusammengerolltes Handtuch in seinem Mund steckte.
    »Halleluja«, rief er, um den Anschein von Freude

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